OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.12.2020 - 3 N 189/20 - asyl.net: M29324
https://www.asyl.net/rsdb/M29324
Leitsatz:

Familienschutz für Kinder unabhängig von familiärer Lebensgemeinschaft:

Die Gewährung von Familienschutz für Kinder von Asylberechtigten oder international Schutzberechtigten setzt nicht voraus, dass zwischen den Kindern und der stammberechtigten Person eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienschutz, Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Berufungszulassung, Grundsätzliche Bedeutung,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 26 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1 Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat nach der maßgeblichen Begründung des Zulassungsantrags (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) keinen Erfolg.

2-4 Die von der Beklagten erhobene Grundsatzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) greift nicht durch. Hierfür wäre erforderlich, dass eine bisher weder höchstrichterlich noch obergerichtlich beantwortete konkrete und zugleich entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen und erläutert wird, warum sie über den Einzelfall hinaus bedeutsam ist und im Interesse der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht. Die Beklagte legt nicht dar, dass die von ihr aufgeworfene Frage, ob § 26 Abs. 2 AsylG als   (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal voraussetzt, dass im Bundesgebiet eine gelebte familiäre Gemeinschaft zwischen dem Ableitenden und dem Stammberechtigten vorliegen muss, der Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. 5 Dies gilt bereits deshalb, weil der Zulassungsantrag sich zwar ausführlich mit der Normgeschichte des § 26 AsylG und dem Sinn und Zweck der Regelung des Familienasyls bzw. des internationalen Schutzes für Familienangehörige befasst, auf die er sich für die Annahme eines solchen ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals stützen will, sich indessen nicht mit den vom Verwaltungsgericht (durch Bezugnahme auf den Beschluss vom 18. Juni 2019 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe an die Klägerin) zum Beleg seiner Auffassung angeführten Entscheidungen (BayVGH, Urteil vom 16. Oktober 2018 - 21 B 18.31010 - juris, VG Köln, Urteil vom 19. Juni 2018 - 17 K 637.18 A - juris Rn. 29) und Kommentarliteratur (Marx, AsylG, 10. A., § 26 Rn. 31; Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 26 AsylG Rn. 20; Schröder, in: Hofmann, AuslR, 2. A., § 26 AsylG Rn. 22) auseinandersetzt.

6 Unabhängig davon bedarf die aufgeworfene Frage nicht der Klärung in einem Berufungsverfahren, weil ihre Antwort sich ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt. § 26 Abs. 2 AsylG, der gemäß § 26 Abs. 5 AsylG auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechende Anwendung findet, knüpft die Anerkennung eines zum Zeitpunkt seiner Antragstellung minderjährigen ledigen Kindes eines Asylberechtigten (bzw. international Schutzberechtigten) allein an die Voraussetzungen, dass die Anerkennung des Ausländers unanfechtbar und nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Weitere Anforderungen stellt die Vorschrift nicht auf, im Unterschied namentlich zu § 26 Abs. 1 bzw. Abs. 3 AsylG, wonach für Ehegatten oder Lebens - partner bzw. Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten gilt, dass die Ehe oder Lebenspartnerschaft bzw. die Familie schon in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1997 - 9 C 35.96 - juris Rn. 5, Beschluss vom 18. Dezember 2019 - 1 C 2.19 - juris Rn. 14). Es fehlt an jeglichem Anknüpfungspunkt im Gesetzestext für das von der Beklagten angenommene ungeschriebene Erfordernis einer bestehenden familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland. Auch die Funktion der Erstreckung der Asylberechtigung bzw. des internationalen Schutzes auf Familienangehörige, der vermuteten Verfolgung des Familienverbands im Herkunftsstaat Rechnung zu tragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2019 - 1 C 2.19 - juris Rn. 19), gibt keinen Anlass zur Annahme einer ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzung im Sinne der von der Beklagten für klärungsbedürftig gehaltenen Frage (vgl. Epple, GK-AsylG, § 26 Rn. 52). Insbesondere spricht nichts dafür, dass es für die Gefährdung des Kindes einer schutzberechtigten Person im Herkunftsstaat einen Unterschied macht, ob diese in Deutschland eine familiäre Lebensgemeinschaft führen, worüber im Herkunftsstaat im Zweifel ohnehin nichts bekannt sein dürfte.

7 Im Übrigen ergibt sich aus den von der Beklagten nicht angegriffenen Angaben im Tatbestand des angefochtenen Gerichtsbescheids, dass der Vater der Klägerin, dem im Dezember 2016 unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zusammen mit der Mutter das gemeinsame Sorgerecht für die Klägerin hat und das Umgangsrecht mit ihr ausübt, ein familiärer Bezug also (weiterhin) vorhanden ist. 8 Dass für die aufgeworfene Frage unionsrechtlicher Klärungsbedarf bestehe (vgl. für die Frage einer weiteren Staatsangehörigkeit BVerwG, Vorlagebeschluss vom 18. Dezember 2019 - 1 C 2.19 - juris), macht der Zulassungsantrag nicht geltend. [...]