VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 28.09.2020 - 8 K 1539/20.A - asyl.net: M29274
https://www.asyl.net/rsdb/M29274
Leitsatz:

Familienflüchtlingsschutz für jordanischen Ehepartner einer in Deutschland als Flüchtling anerkannten Syrerin:

1. Familienschutz nach § 26 AsylG setzt keine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder "Verfolgungsgemeinschaft" der Familienmitglieder voraus. Es besteht kein dahingehendes ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.

2. In der Folge ist im Rahmen des § 26 AsylG nicht zu prüfen, ob sich durch eine von der stammberechtigten Person abweichende Staatsangehörigkeit eine alternative Fluchtmöglichkeit eröffnet. Dies stellt keine negative Tatbestandsvoraussetzung dar.

(Leitsätze der Redaktion; vorgehend VG Münster, Beschluss vom 03.08.2020 - 8 L 574/20.A - asyl.net: M28889)

Schlagwörter: Familienflüchtlingsschutz, Syrien, Jordanien, Familienangehörige, Familieneinheit, Familienschutz, familiäre Lebensgemeinschaft, Staatsangehörigkeit,
Normen: AsylG § 26 Abs. 1 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j.,
Auszüge:

[...]

2. Im Übrigen ist der Bescheid des Bundesamtes vom 25. Juni 2020 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund des Familienasyls nach § 26 Abs. 1, Abs. 5 AsylG.

Nach § 26 Abs. 5 Satz 1, 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG wird der Ehegatte eines international Schutzberechtigten ebenfalls als international Schutzberechtigter anerkannt, wenn die Anerkennung des international Schutzberechtigten unanfechtbar ist (§ 26 Abs. 5 Satz 1, 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylG), die Ehe mit dem international Schutzberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem der international Schutzberechtigte verfolgt wird (§ 26 Abs. 5 Satz 1, 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG), der Ehegatte vor der Anerkennung des Ausländers als international Schutzberechtigter eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat (§ 26 Abs. 5 Satz 1, 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG) und die Anerkennung des international Schutzberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (§ 26 Abs. 5 Satz 1, 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Die Voraussetzung nach Nr. 1 ist mit unanfechtbarer Zuerkennung. der Flüchtlingseigenschaft zugunsten der Ehegattin des Klägers mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. Februar 2018 (Aktenzeichen des Bundesamtes ... erfüllt. [...]

e) Soweit die Beklagte im in Rede stehenden Bescheid die Auffassung vertritt, als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 26 AsylG komme es auf eine gemeinsame Staatsangehörigkeit bzw. "Verfolgungsgemeinschaft" an, welche im Falle des Klägers und seiner Ehefrau nicht besteht, folgt das Gericht dem nicht (vgl. für den Fall unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten ebenso VG Berlin, Urteil vom 27. November 2019 - 19 K 53/19 A -, juris Rn. 21; VG Hannover, Beschluss vom 18. November 2019 - 3 B 5314/19 juris Rn. 14 f.; VG Hamburg, Urteil vom 13. Februar 2019 - 10 AE 6172/18 -, juris Rn. 16 ff.; Epple, in: GK-AsylG, Stand: März 2019, § 26 Rn. 46; a.A. VG Kassel, Urteil vom 7. Juni 2018 - 2 K 1834/17.KS.A juris Rn. 31 ff.).

Ein entsprechendes Tatbestandsmerkmal ist weder § 26 AsylG zu entnehmen, noch lassen sich dafür Anhaltspunkte in der Entstehungsgeschichte der Norm finden. Eine derartige Annahme widerspricht vielmehr der gesetzgeberischen Intention, die auch darin bestand, das Asylverfahren zu vereinfachen und "die Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten [zu] förder[n]" (vgl. die Gesetzgebungsmaterialien zur Vorgängervorschrift § 7a Abs. 3 Asyl VfG 1990 BT-Drs. 11/6960, S. 29 f.). § 26 AsylG bezweckt danach nicht nur eine Regelvermutung, dass Angehörige eines Schutzberechtigten dem Verfolgungsgeschehen nahestehen, sondern auch die Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Anerkennung von Flüchtlingen, indem eine unter Umständen schwierige Prüfung eigener Verfolgungsgründe von Familienangehörigen erspart werden soll (vgl. Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition (Stand: 1. März 2020), § 26 AsylG Rn. 2; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 3).

Zudem soll die Norm auch aus sozialen Gründen die Einordnung der nahen Familienangehörigen der aus Schutzgründen aufgenommenen Personen in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik fördern. Diese Zwecke werden jedoch offensichtlich auch in solchen Fällen gefördert, in denen Familienangehörige nicht eine besondere Nähe zu dem den Flüchtlingsschutz begründenden Verfolgungsgeschehen aufweisen.

Es erscheint zudem zweifelhaft, die beabsichtigte teleologische Reduktion für Fälle der Verfolgungsferne von Familienangehörigen gerade an die Staatsangehörigkeit dieser Personen zu knüpfen. Es ist nicht ersichtlich, wieso Ehegatten mit einer anderen Staatsangehörigkeit als der Stammberechtigte nicht ggf. im Verfolgerstaat auch Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein sollten. Auch hätte der Gesetzgeber die Übereinstimmung der Staatsangehörigkeit von Stammberechtigtem und Ehegatten ohne Weiteres als Voraussetzung in § 26 Abs. 1 AsylG niederlegen können. Die im Ergebnis teleologische Reduktion der Norm könnte in einigen Konstellationen den Ehegatten vielmehr zunächst zwingen, sich räumlich vom Stammberechtigten zu trennen und im Staat der eigenen Staatsangehörigkeit Schutz zu suchen. Es ist unsicher, ob der Staat dieses Ehegatten zu dessen Gunsten schutzbereit, -willig bzw. -fähig ist oder - soweit man den Erhalt des Familienverbundes als weiteren Zweck dieser Norm und nicht allein als solchen des Ausländerrechts erkennt - auch bereit ist, dem anderen Ehegatten und gegebenenfalls weiteren Familienangehörigen Schutz zu gewähren. Dies könnte das Familienasyl faktisch unter den Vorbehalt einer internationalen Fluchtalternative für die Familie stellen.

Auch die Berücksichtigung europäischer Vorgaben führt zu keinem andern Ergebnis. Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU unterscheidet zwar durchaus zwischen Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wird und solchen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen. Daraus folgt allerdings nicht, dass in der Person desjenigen, der Familienschutz beanspruchen möchte, ebenfalls die Voraussetzungen zur Gewährung internationalen Schutzes vorliegen müssen, worauf die Ansicht der Antragsgegnerin hinausliefe, die Familienasyl nur dann zusprechen will, wenn dem Familienangehörigen im Land seiner Staatsangehörigkeit ebenfalls Verfolgung droht. Im Gegenteil bestätigt die Bestimmung vielmehr, dass die Gewährung von Familienschutzes nicht erfordert, dass die Angehörigen des Familienverbandes selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen müssen. Andernfalls wäre die Regelung überflüssig, weil alle Familienmitglieder, denen vergleichbare Schicksale drohen, eigenständig Schutz reklamieren können. Kommt es auf das Bestehen einer vergleichbaren Gefährdungslage für die Gewährung von Familienasyl aber nicht an, muss im Rahmen des § 26 AsylG auch keine durch eine andere Staatsangehörigkeit eröffnete  "Alternativfluchtmöglichkeit" als negative Tatbestandsvoraussetzung geprüft werden. [...]