VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Beschluss vom 13.01.2021 - 4 L 659/20.A (Asylmagazin 4/2021, S. 130) - asyl.net: M29224
https://www.asyl.net/rsdb/M29224
Leitsatz:

Keine Ablehnung als "offensichtlich unbegründet" wegen Herkunft aus "sicherem Herkunftsstaat" bei glaubhaftem Verfolgungsvortrag:

1. Bei Antragsteller*innen aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne von § 29a Abs. 2 AsylG gilt die Vermutung, dass diesen keine Verfolgung droht, mit der Folge, dass der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist.

2. Die Vermutung gilt jedoch dann als widerlegt, wenn die Personen Tatsachen vorbringen, die eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG begründen können. Hiervon ist grundsätzlich auszugehen, wenn eine Antragstellerin glaubhaft vorträgt, in ihrem Herkunftsstaat (hier Ghana) einer geschlechtsspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt zu sein.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ghana, sichere Herkunftsstaaten, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, soziale Gruppe, einstweilige Anordnung, häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt, Genitalverstümmelung, nichtstaatliche Verfolgung, Suspensiveffekt,
Normen: AsylG § 29a Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

Im vorliegenden Fall bestehen in Ansehung des Vorbringens der Antragsteller und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides, mit welchem die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden und zugleich festgestellt wurde, dass auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, sowie ihnen unter Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise innerhalb einer Woche die Abschiebung nach Ghana angedroht worden ist.

Zwar geht die Antragsgegnerin zunächst zutreffend davon aus, dass bei einem Ausländer, welcher - wie hier die Antragsteller - aus einem sicheren Herkunftsstaat wie z.B. Ghana i.S.v. Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG, § 29a Abs. 2 AsylG i.V.m. der Anlage II zum AsylG stammen, vermutet wird, dass er nicht verfolgt wird, mit der Folge, dass sein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist (§ 29a Abs. 1 AsylG), soweit er keine Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG verfolgt wird oder ihm ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG droht.

Die sich daran anschließende sinngemäße rechtliche Argumentation, wonach es im Falle von Verfolgungshandlungen, die - wie etwa landestypische Gewalt gegen Frauen - an das weibliche Geschlecht anknüpfen, an der Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal fehle, weil Frauen keine soziale Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellten, begegnet allerdings rechtlichen Bedenken. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe u.a. auch dann vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Die von der Antragstellerin zu 1) geltend gemachten Übergriffe durch ihren Ex-Partner und Vater der Antragsteller zu 2) und 3) können daher nicht ohne Weiteres als bloßes kriminelles Unrecht qualifiziert werden. Vielmehr bleibt es dem Hauptsacheverfahren vorbehalten, Hintergrund und Charakter dieser Übergriffe näher zu prüfen und in die landestypischen Gegebenheiten einzuordnen, wobei auch die Schutzwilligkeit und -fähigkeit des Heimatstaates zu beleuchten sein wird.

Nach der aktuellen Erkenntnislage (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29.02.2020) ist in Ghana gegen Frauen und Kinder gerichtete körperliche Gewalt bis hin zu Mord oder Vergewaltigung nach wie vor an der Tagesordnung und der Staat vermag dem nur schwer etwas Wirksames entgegenzusetzen. [...]

Außerdem liegen von der Antragsgegnerin nicht hinreichend gewürdigte Hinweise darauf vor, dass der Antragstellerin zu 3) eine Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische Verfolgung drohen könnte, welche der ghanaische Staat als weiterhin anzutreffendes Phänomen trotz verschiedener Bemühungen nur unzureichend in den Griff bekommt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.02.2020). [...]