Kein pauschales Beschäftigungsverbot auch während des Dublin-Verfahrens wegen Anwendbarkeit der EU-Aufnahmerichtlinie:
1. Asylantragstellende haben gemäß Art. 15 Abs. 1 AufnRL 2013/33/EU nach spätestens neun Monaten einen Anspruch auf Zugang zum Arbeitsmarkt.
2. Auch Personen, gegen die eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin-III-Verordnung ergangen ist, gelten grundsätzlich als Antragstellende im Sinne von Art. 15 AufnRL. Ein pauschales Beschäftigungsverbot für diese Personengruppe ist nicht mit Unionsrecht vereinbar.
3. Eine Verzögerung des Asylverfahrens darf dann den Antragstellenden zur Last gelegt werden, wenn sie auf ihre mangelnde Zusammenarbeit mit den Behörden zurückzuführen ist.
4. Eine Verzögerung ist Betroffenen nicht deshalb zur Last zu legen, weil sie den Asylantrag nicht im Mitgliedstaat der ersten Einreise gestellt haben. Ebenso liegt in der Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung keine vorwerfbare Verfahrensverzögerung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
61 Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C-322/19 und der ersten Frage in der Rechtssache C-385/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einen Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie vom Zugang zum Arbeitsmarkt allein deshalb ausschließt, weil gegen ihn eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin-III-Verordnung ergangen ist.
62 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dafür Sorge tragen, dass die Antragsteller unter den in dieser Bestimmung vorgesehenen Bedingungen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Soweit diese Bestimmung auf den Zugang zum Arbeitsmarkt zugunsten der "Antragsteller" abzielt, ist auf die Definition dieses Begriffs in Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie zu verweisen.
63 Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 definiert den "Antragsteller" als "einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde". Mit der Verwendung des unbestimmten Artikels "einen" stellt der Unionsgesetzgeber, wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, klar, dass kein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von vornherein vom Status eines Antragstellers ausgeschlossen ist.
64 Ferner unterscheidet Art. 2 Buchst. b nicht danach, ob der Antragsteller nach der Dublin-III-Verordnung Gegenstand eines Verfahrens zur Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat ist oder nicht. Nach dieser Bestimmung behält der Antragsteller diesen Status nämlich, soweit über seinen Antrag auf internationalen Schutz "noch nicht endgültig entschieden wurde". Wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 bis 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt eine Überstellungsentscheidung jedoch keine Entscheidung dar, mit der endgültig über einen Antrag auf internationalen Schutz entschieden wird, so dass ihr Erlass nicht zur Folge haben kann, dass der Betroffene seine Eigenschaft als "Antragsteller" im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 verliert.
65 Diese wörtliche Auslegung steht zweitens im Einklang mit der Absicht des Unionsgesetzgebers, wie sie sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 ergibt, wonach diese in allen Phasen und auf alle Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen und so lange, wie die Antragsteller als solche im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bleiben dürfen, Anwendung findet. Daraus folgt, dass Antragsteller, die Gegenstand der durch die Dublin-III-Verordnung eingeführten "Verfahren betreffend Anträge auf internationalen Schutz" sind, offensichtlich in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie und damit in den ihres Art. 15 fallen. [...]
67 Diese Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 steht drittens im Einklang mit dem Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI (C-179/11, EU:C:2012:594), betreffend die Verpflichtung des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie 2003/9, die durch die Richtlinie 2013/33 aufgehoben und ersetzt wurde, gestellt wurde, dem Antragsteller während der Dauer des Verfahrens zur Aufnahme oder Wiederaufnahme durch den nach der Vorgängerverordnung der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung dieses Antrags zuständigen Mitgliedstaat Mindestbedingungen für die Aufnahme zu garantieren. Der Gerichtshof hat in Rn. 40 dieses Urteils festgestellt, dass die Art. 2 und 3 der Richtlinie 2003/9, die im Wesentlichen den Art. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 entsprechen, nur eine Kategorie von Antragstellern vorsehen, die alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen umfasst, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen. In Rn. 53 dieses Urteils hat der Gerichtshof im Wesentlichen klargestellt, dass der Antragsteller diese Eigenschaft behält, solange noch keine endgültige Entscheidung über seinen Antrag ergangen ist. Schließlich hat der Gerichtshof in Rn. 58 des Urteils hervorgehoben, dass die Verpflichtung des mit einem solchen Antrag befassten Mitgliedstaats, die in der Richtlinie 2003/9 festgelegten Mindestvoraussetzungen zu gewähren, erst mit der tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers durch den ersuchenden Mitgliedstaat endet. [...]
69 Viertens heißt es im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33, dass Normen für die Aufnahme von Antragstellern festgelegt werden sollten, die diesen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten. Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass das Erfordernis der Achtung der Menschenwürde nicht nur gegenüber Asylbewerbern gilt, die sich bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag im Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaats aufhalten, sondern auch gegenüber solchen, die auf die Bestimmung des für diesen Antrag zuständigen Mitgliedstaats warten (Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C-179/11, EU:C:2012:594' Rn. 43). Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, trägt die Arbeit in offenkundiger Weise zur Wahrung der Würde des Antragstellers bei, da die Einkünfte aus einer Beschäftigung es ihm ermöglichen, nicht nur seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern auch, über eine Unterkunft außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen zu verfügen, in der er gegebenenfalls seine Familie aufnehmen kann. [...]
72 Somit fallen Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33, gegen die nach der Dublin-III-Verordnung eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, in den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie. [...]
74 Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C-385/19 möchte das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) im Wesentlichen wissen, welches Verhalten eine Verzögerung darstellen kann, die dem Antragsteller im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 zur Last gelegt werden kann. [...]
79 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich im Wesentlichen, dass eine Verzögerung bei der Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, wenn er es unterlassen hat, mit den zuständigen nationalen Behörden zusammenzuarbeiten. In Anbetracht des in den Rn. 57 ff. des vorliegenden Urteils angeführten Gebots einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ist diese Auslegung auch dann geboten, wenn die Richtlinie 2013/32 in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgrund eines spezifischen abweichenden Rechtsakts, in diesem Fall des Protokolls Nr. 21, nicht anwendbar ist.
80 Nach alledem ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C-385/19 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass dem Antragsteller eine Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zur Last gelegt werden darf, die auf eine mangelnde Zusammenarbeit dieses Antragstellers mit den zuständigen Behörden zurückzuführen ist.
81 Mit der vierten Frage in der Rechtssache C-322/19 möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb zur Last legen darf, weil dieser Antragsteller seinen Antrag nicht im Mitgliedstaat der ersten Einreise gestellt hat.
82 Insoweit ist zum einen festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in den Nrn. 110 und 112 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, keine Bestimmung der Dublin-III-Verordnung einen Antragsteller verpflichtet, seinen Antrag im Mitgliedstaat der ersten Einreise zu stellen. [...]
85 Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C-322/19 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nicht deshalb zur Last legen darf, weil dieser Antragsteller seinen Antrag nicht gemäß Art. 13 der Dublin-III-Verordnung im Mitgliedstaat der ersten Einreise gestellt hat.
86 Mit der fünften Frage in der Rechtssache C-322/19 möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung bei der Bearbeitung seines Antrags auf internationalen Schutz zur Last legen darf, die sich daraus ergibt, dass er gemäß der Dublin-III-Verordnung gegen die gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat.
87 Erstens ist daran zu erinnern, dass Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung die Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihrem innerstaatlichen Recht vorzusehen, dass zum einen der Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht verleiht, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben, und zum anderen, dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird.
88 Diese Bestimmungen sind im Licht des 19. Erwägungsgrundes der Dublin-III-Verordnung auszulegen, wonach im Einklang insbesondere mit Art. 47 der Charta Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden sollten, um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten. So ist zum einen entschieden worden, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, den Rechtsschutz von Personen, die internationalen Schutz beantragen, dem Erfordernis einer zügigen Bearbeitung ihres Antrags zu opfern, indem er ihnen einen wirksamen und vollständigen Rechtsschutz garantiert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C-63/15, EU:C:2016:409' Rn. 57, und vom 31. Mai 2018, Hassan, C-647/16, EU:C:2018:368' Rn. 57), und zum anderen, dass eine restriktive Auslegung der Reichweite des in Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Rechts auf einen Rechtsbehelf der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab, C-670/16, EU:C:2017:587, Rn. 46 und 47).
89 Daraus folgt, dass die Ausübung des Rechts des Antragstellers auf einen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung als solche keine vorwerfbare Verzögerung im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 darstellen kann. Abs. 3 dieser Vorschrift stellt im Übrigen klar, dass einem Antragsteller der Zugang zum Arbeitsmarkt während des Rechtsbehelfsverfahrens nicht entzogen werden darf. Dies muss auch dann gelten, wenn ein Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung eingelegt wurde. [...]
93 Nach alledem ist auf die fünfte Frage in der Rechtssache C-322/19 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung bei der Bearbeitung seines Antrags auf internationalen Schutz, die sich daraus ergibt, dass er gemäß der Dublin-III-Verordnung gegen die gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat, nicht zur Last legen darf. [...]