OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 04.01.2021 - 2 B 300/20 - asyl.net: M29205
https://www.asyl.net/rsdb/M29205
Leitsatz:

Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung eines in Deutschland aufgewachsenen Drittstaatsangehörigen:

"1. Die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG hat für die ausweisungsrechtliche Gefahrenprognose kein hohes Gewicht, da eine Prüfung, ob sie mit öffentlichen Sicherheitsinteressen vereinbar ist, anders als bei der Strafrestaussetzung zur Bewährung nach § 36 BtMG und § 57 StGB nicht stattfindet.

2. Die Gefahr der Begehung von Ladendiebstählen - auch wenn der Täter dabei gelegentlich Personen, die ihn festhalten, schubst oder sich von ihnen losreißt - sowie von Drogenerwerb und -besitz zum Eigenkonsum rechtfertigt die Ausweisung eines als Kleinkind eingereisten Ausländers, der nahezu sein ganzes Leben rechtmäßig in Deutschland verbracht hat und seit über zwanzig Jahren eine Niederlassungserlaubnis besitzt, nicht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Straftat, Verhältnismäßigkeit, Diebstahl, Fachaufsicht, Körperverletzung, Weisungsrecht, Strafvollstreckung, Wiederholungsgefahr, faktischer Inländer, besondere Härte, besonderer Ausweisungsschutz, Europäische Menschenrechtskonvention, Achtung des Privatlebens,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a, AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 71 Abs. 1, BtMG § 35, EMRK Art. 8, VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid vom 13.09.2017 und des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 06.01.2020 ist wiederherzustellen. Das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung, da sich die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig erweisen. Zwar sind sowohl die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung als auch die Anordnung ihrer sofortigen Vollziehung formell rechtmäßig (1.). Es besteht auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller erneut Straftaten begehen wird (2.). Die Ausweisung ist aber in Anbetracht des geringen Gewichts der drohenden Straftaten unverhältnismäßig (3.). Daher ist auch die Abschiebungsandrohung rechtswidrig (4.). [...]

2. Vom Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland geht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus (§ 53 Abs. 1 AufenthG), weil der Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten (Ladendiebstähle, eventuell auch als räuberische Diebstähle bzw. in Verbindung mit Nötigung oder einfacher Körperverletzung, sowie Betäubungsmittelbesitz und -erwerb zum Eigenkonsum) begehen wird. Bei der tatrichterlichen Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten droht, sind alle Umstände des Einzelfalls gegeneinander abzuwägen, die geeignet sind, Auskunft über die gegenwärtig (noch) von dem Betroffenen ausgehende Gefährdung zu geben (OVG Bremen, Beschl. v. 02.12.2020 – 2 B 257/20, juris Rn. 16 m.w.N.). [...]

Soweit die Beschwerde vorträgt, das Landgericht habe "Bereitschaft zu einer Zurückstellung der Strafe nach § 35 BtMG signalisiert", ist dies zum einen nicht belegt. Zum anderen hätte eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG für die ausweisungsrechtliche Gefahrenprognose kein hohes Gewicht, da sie weder die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolgs noch die Wahrscheinlichkeit zukünftig straffreien Verhaltens voraussetzt. Eine Prüfung, ob die Zurückstellung mit den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit vereinbar ist, findet – anders als bei Entscheidungen nach § 36 BtMG oder § 57 StGB – nicht statt (Bay. VGH, Beschl. v. 02.05.2017 – 19 CS 16.2466, juris Rn. 13; vgl. auch Fabricius, in: Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 35 Rn. 377). [...]

3. Die Ausweisung erweist sich bei summarischer Prüfung als voraussichtlich unverhältnismäßig. Die vom Antragsteller drohenden Straftaten wiegen nicht schwer genug, um dem Ausweisungsinteresse ein Übergewicht gegenüber dem Bleibeinteresse zu verschaffen.

a) Bei Betrachtung der als Regeltatbestände ausgestalteten Abwägungsdirektiven der §§ 54, 55 AufenthG ergeben sich sowohl besonders schwerwiegende Ausweisungs- als auch besonders schwerwiegende Bleibeinteressen. Der Antragsteller wurde vom Amtsgericht Bremen mit Urteil vom 20.07.2016 wegen Diebstahls in 12 Fällen unter Einbeziehung einer vorangegangenen Verurteilung wegen Diebstahls in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt. Er hat damit die Tatbestände des § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a d) AufenthG (letzteren in Form der "serienmäßigen" Begehung von Eigentumsdelikten) verwirklicht. Er besitzt aber auch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.

b) Entscheidend ist die umfassende, einzelfallbezogene Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG, die insbesondere unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 8 EMRK zu erfolgen hat (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 15.11.2019 – 2 B 243/19, juris Rn. 21). Diese Abwägung geht hier zugunsten des Antragstellers aus; die Ausweisung verletzt sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK.

aa) Die Ausweisung des Antragstellers greift in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK ein. Der Begriff des "Privatlebens" i.S.v. Art. 8 EMRK umfasst die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen ansässigen Zuwanderern und der Gesellschaft, in der sie leben (EGMR, Urt. v. 18.10.2006 – 46410/99, Üner ./. NL, juris Rn. 59; OVG Bremen, Beschl. v. 17.01.2019 - 1 B 333/18 -, juris Rn. 19). Der Antragsteller ist im Alter von 3 Jahren nach Deutschland eingereist, hat hier seit 40 Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt und besaß im Zeitpunkt der Ausweisung seit 24 Jahren einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Schon allein wegen des langen Aufenthalts ist anzunehmen, dass er in Deutschland ein von Art. 8 EMRK geschütztes Privatleben führt (vgl. auch OVG Bremen, Beschl. v. 23.04.2010 – 1 S 213/09, juris Rn. 8).

bb) Die Ausweisung des Antragstellers ist nicht von der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Sie ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK, weil sie nicht verhältnismäßig ist.

Bei der Prüfung, ob eine Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig ist, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte folgende Kriterien zu berücksichtigen: Die Art und Schwere der begangenen Straftat; die seither vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat; die familiäre Situation; ob ein Partner bei der Begründung der Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; das Interesse und das Wohl eventueller Kinder, insbesondere deren Alter; der Umfang der Schwierigkeiten, auf die die Kinder oder der Partner im Heimatland des Ausländers treffen würden; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufenthaltsstaat; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländers zum Gastland und zum Bestimmungsland (vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.10.2006 – 46410/99 -, Üner ./. NL, NVwZ 2007, 1279 [1281 – Rn. 57 f.]; OVG Bremen, Beschl. v. 12.03.2020 – 2 B 19/20, juris Rn. 26).

Konkrete familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindungen des Antragstellers in Deutschland von hohem Gewicht sind nicht feststellbar. [...]

Dies ändert aber nichts daran, dass der Antragsteller im Alter von drei Jahren eingereist ist, in Deutschland aufgewachsen ist und circa 40 seiner bislang 43 Lebensjahre – also etwa 90 % seines bisherigen Lebens – hier verbracht hat. Bereits im Alter von 16 Jahren wurde ihm ein unbefristeter Aufenthaltstitelt erteilt, den er bis zur streitgegenständlichen Ausweisung 24 Jahre lang besessen hat. Ausländer, die als Kleinkinder eingereist sind, in Deutschland aufgewachsen sind und nahezu ihr gesamtes Leben hier verbracht haben, genießen zwar keinen absoluten Ausweisungsschutz (vgl. EGMR, Urt. v. 13.10.2011, - 41548/06 -, Trabelsi ./. D, EuGRZ 2012, 11 [15 – Rn. 54]; Urt. v. 18.10.2006 – 46410/99 -, Üner ./. NL, NVwZ 2007, 1279 [1282 – Rn. 66]; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, juris Rn. 19). Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist aber der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (BVerfG, Beschl. v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20, juris Rn. 24). Ihre Ausweisung bedarf sehr gewichtiger Gründe (vgl. EGMR, Urt. v. 13.10.2011, - 41548/06 -, Trabelsi ./. D, EuGRZ 2012, 11 [15 – Rn. 55]; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, juris Rn. 19; OVG Bremen, Beschl. v. 15.11.2019 – 2 B 243/19, juris Rn. 31). Daran fehlt es vorliegend.

Die oben unter Ziff. 2 festgestellte hohe Wiederholungsgefahr bezieht sich auf Ladendiebstähle, bei denen der Antragsteller Schäden von überwiegend unter hundert Euro, maximal in Einzelfällen von einigen hundert Euro pro Tat verursacht, sowie auf den Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum. Ernsthaft zu rechnen ist ferner damit, dass der Antragsteller im Zusammenhang mit Ladendiebstählen Personen, die ihn festhalten wollen, "wegschubst" oder sich von ihnen losreißt. Strafrechtlich können solche Taten, je nach dem, ob der Antragsteller in Beutesicherungsabsicht handelt bzw. die betroffenen Personen sich verletzen, als räuberischer Diebstahl, Nötigung oder (einfache) Körperverletzung zu qualifizieren sein. Räuberischer Diebstahl wird vom Gesetzgeber als Verbrechen eingestuft (vgl. §§ 252, 249, 12 Abs. 1 StGB) und wiegt daher grundsätzlich auch ausweisungsrechtlich schwer. Die körperliche Unversehrtheit ist ebenfalls ein Rechtsgut von hohem Rang. Bei konkret-individueller Betrachtung lagen die vom Antragsteller eingesetzten Nötigungsmittel und verursachten Verletzungen aber am untersten Rand des tatbestandsmäßigen. Es handelte sich "nur" um Rangeleien bzw. ein Schubsen, Losreißen oder (in einem Fall) um das kurze Zurufen einer Drohung (zu deren Verwirklichung der Antragsteller nichts unternommen hat). Diese Mittel wurden vom Antragsteller überdies in den letzten 16 Jahren ausschließlich mit "defensiver" Zielrichtung eingesetzt, wenn Zeugen ihn festgehalten haben. Sozusagen "von sich aus" angegriffen hat er seit 2004 niemanden mehr. Ernsthafte Verletzungen oder eine konkrete ernsthafte Gesundheitsgefahr hat er soweit ersichtlich nicht verursacht. Er hat auch nicht immer mit Gewalt oder Drohungen reagiert, wenn er bei Ladendiebstählen ertappt wurde. In den meisten Fällen hat er sich widerstandslos ergeben. Aggravationstendenzen bestehen nicht. Die Schwere der Straftaten hat seit 2008 sogar abgenommen; soweit davor vereinzelt schwerwiegendere Taten begangen wurden, ist ihre Wiederholung nicht ernsthaft zu erwarten (s.o. Ziff. 2 b).

Die Gefahr von Ladendiebstählen mit überwiegend zwei- bis maximal dreistelligen Schadenssummen pro Tat, von niedrigschwelligen Nötigungshandlungen in Form des Rangelns, Schubsens oder Losreißens und von dadurch eventuell verursachten leichten Körperverletzungen sowie von Drogenerwerb und -besitz zum Eigenkonsum stellt keinen "sehr gewichtigen Grund" im Sinne der Rechtsprechung des EGMR dar. Ihre Verhinderung rechtfertigt daher die Ausweisung des Antragstellers, der nahezu sein ganzes bisheriges Leben lang rechtmäßig in Deutschland gelebt hat, nicht. [...]