OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 01.12.2020 - 4 Bf 205/18.A (Asylmagazin 3/2021, S. 87 ff.) - asyl.net: M29184
https://www.asyl.net/rsdb/M29184
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für vor dem Nationaldienst geflüchtete Frau aus Eritrea:

"1. Die Einberufung zum Nationaldienst in Eritrea knüpft nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG an.

2. Frauen im Nationaldienst Eritreas bilden keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

3. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Frauen mit Kindern in den militärischen Teil des Nationaldienstes einberufen werden.

4. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger allein deshalb eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, weil er illegal ausgereist ist, dadurch den Nationaldienst nicht ableistet und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat.

5. Insbesondere besteht derzeit keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Involvierung von Teilen der eritreischen Armee in den Tigray-Konflikt dazu führt, dass der eritreische Staat aktuell in der Verweigerung des Nationaldienstes – ziviler Teil – eine politische Opposition erblicken würde."

(Amtliche Leitsätze; anschließend an OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.09.2020 - 19 A 1857/19.A (Asylmagazin 10-11/2020, S. 372 ff.) - asyl.net: M28854)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Frauen, soziale Gruppe, politische Verfolgung, Äthiopien, Tigray-Konflikt, materielles Asylrecht, geschlechtsspezifische Verfolgung, Militärdienst,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht zu, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Der Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft nicht aufgrund einer ihr bei Rückkehr in ihr Herkunftsland drohenden flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung zuzuerkennen. Dabei ist von Eritrea als Herkunftsland auszugehen, da an der eritreischen Staatsangehörigkeit der Klägerin nach dem Inhalt der Niederschrift über deren Anhörung bei der Beklagten keine Zweifel bestehen [...]. [...]

Nach diesen Maßstäben lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Eritrea sowie den eigenen Angaben der Klägerin in ihrer Anhörung bei der Beklagten nicht zur Überzeugung des Senats feststellen, dass der Klägerin, die nicht vorverfolgt aus Eritrea ausgereist ist (dazu unter aa)), im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Dies gilt zunächst im Hinblick auf eine Heranziehung der Klägerin zum Nationaldienst als solchem (dazu unter bb)). Auch kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, ihr drohe im Rahmen des Nationaldienstes geschlechtsspezifische Gewalt in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen als bestimmte soziale Gruppe (dazu unter cc)). Schließlich erfüllt auch die von der Klägerin befürchtete Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Nichtableistung des Nationaldienstes nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich "wegen" eines der in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe erfolgen würde (dazu unter dd)). [...]

bb) Eine der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea drohende Einberufung zum Nationaldienst stellt für sich genommen keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG dar. [...]

Ob in der Heranziehung der inzwischen 26-jährigen und damit grundsätzlich dienstverpflichteten Klägerin zum unbefristeten Nationaldienst für sich genommen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu sehen ist, kann offen bleiben. Denn die Nationaldienstpflicht knüpft jedenfalls nicht – wie es § 3a Abs. 3 AsylG fordert – an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe an. Wie bereits ausgeführt, trifft die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes im Wesentlichen alle eritreischen Staatsangehörigen (vgl. Art. 6 und 8 der Proklamation Nr. 82/1995: "any Eritrean citizen", "all Eritrean citizens"). Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe findet insoweit nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand Oktober 2019, 27.1.2020, S. 15 f. [G 2020/1]; EASO, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. [G 4/19]; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 33 f. [G 1/15]; so auch die obergerichtliche Rechtsprechung: OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 37 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 24.8.2020, 4 LA 167/20, juris Rn. 3 ff.; VGH München, Urt. v. 5.2.2020, 23 B 18.31593, juris Rn. 28 ff.; VGH Kassel, Urt. v. 20.7.2019, 10 A 797/18.A, juris Rn. 25 ff.; OVG Saarlouis, Urt. v. 21.3.2019, 2 A 7/18, juris Rn. 27 ff.; OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 45 ff.).

cc) Soweit die Klägerin geltend macht, dass ihr im Rahmen des Nationaldienstes geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen, insbesondere sexualisierte Gewalt, in Anknüpfung an das Merkmal "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" drohen, rechtfertigt dies nicht die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes. Zum einen bilden die Frauen im eritreischen Nationaldienst schon keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (dazu unter (1)), zum anderen ist eine Verfolgung auch aufgrund der persönlichen Umstände der Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich (dazu unter (2)).

(1) Die Frauen im Nationaldienst Eritreas bilden keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 lit. a) und b) AsylG. Hiernach gilt eine Gruppe insbesondere dann als bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Die Voraussetzungen der Buchstaben a) und b) der Norm müssen kumulativ erfüllt sein. Das selbständige Erfordernis der "deutlich abgegrenzten Identität" schließt eine Auslegung aus, nach der eine "soziale Gruppe" im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, Urt. v. 25.1.2018, C-473/16, juris Rn. 30; BVerwG, Beschl. v. 23.9.2019, 1 B 54.19, juris Rn. 8; OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 112).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bildet die Gruppe aller Nationaldienstpflichtigen Staatsbürger Eritreas keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, da die Dienstverpflichtung praktisch ausnahmslos die gesamte eritreische Bevölkerung gleichermaßen ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale trifft (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018, 1 C 29.17, juris Rn. 36).

Nichts Anderes gilt für die Gruppe aller dienstverpflichteten Frauen. Der Umstand, dass Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes aufgrund ihres Geschlechtes in besonderer Weise der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt sind (hierzu sogleich), führt nicht zu der Annahme, dass sie von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäßen. Die Organisation des Nationaldienstes und die Straffreiheit für die Täter, die diese Übergriffe ermöglichen, treffen in gleicher Weise alle dienstverpflichteten Frauen und Männer und beruhen nicht darauf, dass Frauen oder Übergriffe gegenüber Frauen als andersartig betrachtet werden. Der Senat schließt sich insoweit der zutreffenden und überzeugenden Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster (Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 120 ff.) an.

(2) Darüber hinaus ist eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung auch aufgrund der persönlichen Umstände der Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich. Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass es im Nationaldienst Eritreas verbreitet zu sexueller Gewalt gegen Frauen in unterschiedlicher Form kommt (siehe etwa HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mai 2020, S. 13 [G 12/20]; EASO, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 41 ff. [G 4/19]; EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 34, 39 [G 1/15]; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand Oktober 2019, 27.1.2020, S. 15 [G 2020/1]; AI, Report Eritrea 2017/18, 22.2.2018 [G 8/18]; SFH, Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, 13.2.2018 [G 3/18]; Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service, 2017 [G 21/17]; HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5.6.2015 [G 6/15]; United States Department of State (USDOS), Eritrea 2018, Human Rights Report, 19.3.2019, S. 3 [G 3/19]; Human Rights Watch: World Report 2018 - Eritrea, 18.1.2018 [G 7/18]). Nach übereinstimmender Darstellung in den Erkenntnisquellen erfolgen entsprechende Gewalthandlungen im Rahmen des Nationaldienstes allerdings durch Militärangehörige gegenüber Rekrutinnen im Ausbildungslager Sawa und in der militärischen Grundausbildung sowie gegenüber Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldienstes (siehe hierzu eingehend Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service, 2017, S. 7 ff. [G 21/17]; ders., The Eritrean National Service, 2017, S. 132 ff.; HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5.6.2015, Nr. 709, 714, 1202, 1312 ff. [G 6/15]; USDOS, Eritrea 2018, Human Rights Report, 19.3.2019, S. 3 [G 3/19]). Für den zivilen Teil des Nationaldienstes wird nicht von entsprechenden Gewalthandlungen berichtet. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in diesem Teil des Dienstes sind im Wesentlichen dieselben wie diejenigen außerhalb des Nationaldienstes (EASO, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40 [G 4/19]; OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 68). Soweit in diesem EASO-Bericht eine Quelle erwähnt wird, wonach es auch im zivilen Teil des Nationaldienstes gelegentlich dazu komme, dass Dienstvorgesetzte von Frauen sexuelle Dienstleistungen einforderten (S. 42), so handelt es sich lediglich um eine vereinzelt gebliebene Stellungnahme einer namentlich nicht genannten Person, sodass der Verweis auf das "gelegentliche Auftreten" derartiger Situationen nicht geeignet ist, eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" im Sinne einer konkreten Verfolgungsgefahr zu begründen. Dass die Klägerin als Mutter eines Säuglings und eines neun Jahre alten Jungen im Falle einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil (einschließlich der militärischen Grundausbildung) des Nationaldienstes einberufen werden würde, ist indes bei zusammenfassender Würdigung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller anhand der vorliegenden Erkenntnisquellen feststellbaren Umstände zur Überzeugung des Senats nicht beachtlich wahrscheinlich. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen müssen verheiratete Frauen sowie Frauen mit Kindern ihre Nationaldienstverpflichtung in aller Regel nicht im militärischen Teil, sondern (allenfalls) im zivilen Teil des Nationaldienstes erfüllen. [...]

dd) Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerin, ihr drohe im Falle der Rückkehr nach Eritrea eine menschenrechtswidrige Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Nichtableistung des Nationaldienstes. [...]

Ob der Klägerin, die im Alter von 20 Jahren und damit nationaldienstpflichtig aus Eritrea ausgereist ist, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Nichtableistung des Nationaldienstes droht, kann offen bleiben. Denn sowohl eine Bestrafung der illegalen Ausreise als auch eine Sanktionierung der Umgehung des Nationaldienstes durch illegale Ausreise würden jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund – insbesondere nicht an die politische Überzeugung – anknüpfen (dazu unter ((1)). Der Strafbarkeit einer Ausreise entgegen den Bestimmungen der Proklamation Nr. 24/1992, insbesondere ohne gültiges Ausreisevisum, kommt auch nicht für sich genommen unter dem Gesichtspunkt der "Republikflucht" politischer Charakter zu (dazu unter ((2)).

(1) Eine Bestrafung von eritreischen Staatsangehörigen allein wegen illegaler Ausreise und damit einhergehender Umgehung des Nationaldienstes knüpft nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an die politische Überzeugung der Betroffenen an. [...]

Nach diesen Maßstäben ist nicht festzustellen, dass in Eritrea die strafrechtliche Sanktionierung von illegaler Ausreise und Umgehung des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet eingesetzt wird, um betroffene Personen wegen ihrer – auch nur zugeschriebenen – politischen Überzeugung zu treffen. Bei zusammenfassender, qualitativer Würdigung der vorliegenden Erkenntnisquellen überwiegen zur Überzeugung des Senats die Tatsachen, die dagegen sprechen, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, der illegal ausgereist ist und dadurch den Nationaldienst umgeht, generell eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, die dafür sprechenden Umstände (dazu unter (a); vgl. auch OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 58). Anhaltspunkte für eine abweichende Betrachtung folgen weder aus individuellen Umständen der Klägerin (dazu unter (b)) noch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur flüchtlingsschutzrechtlichen Relevanz von Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt (dazu unter (c)).

(a) Zunächst deutet die willkürliche und außergerichtliche Sanktionierungspraxis für die hier in Rede stehenden Delikte auf eine hinter der Bestrafung stehende politische Motivation des eritreischen Staates hin. Für eine entsprechende Zielrichtung der regelhaft unverhältnismäßig harten Bestrafung unter menschenrechtswidrigen Bedingungen spricht auch, dass der Nationaldienst in Eritrea als politisches Projekt neben der Verteidigung auch dem Wiederaufbau des Landes und als "Schule der Nation" der Vermittlung einer nationalen Ideologie dienen soll (vgl. EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 [G 1/15]; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 [G 8/16]; SFH, Eritrea: Nationaldienst, 30.6.2017, S. 6 [G 3/17]). Allerdings spricht das relativ breite Spektrum von möglichen Sanktionen gegen die Annahme, dass ihnen generell ein politischer Charakter zukommt (so auch OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 82). Neben den Haftstrafen, die für sich genommen eine Spanne von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren umfassen können, kann die Bestrafung auch nur in einer Belehrung liegen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 27.1.2020, S. 21 [G 2020/1]). Darüber hinaus wird über Fälle berichtet, in denen Betroffene einer Sanktionierung entgangen sind [...]. Würde der eritreische Staat allen Personen, die illegal ausgereist sind und dadurch die Ableistung des Nationaldienstes umgangen haben, generell eine Regimegegnerschaft unterstellen, wäre zu erwarten, dass er diesem Umstand in der Bestrafungspraxis auch Rechnung trägt und alle Betroffenen (im Wesentlichen gleichermaßen hart) bestraft. Gegen eine politische Zielrichtung spricht ferner der Zweck der Sanktionierungsmaßnahmen, die nach der UN-Untersuchungskommission der Erzwingung von Geständnissen, Informationsgewinnung, Bestrafung für angebliches Fehlverhalten sowie der Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung der Disziplin und völkerrechtswidrigen Kontrolle über die eigene Bevölkerung dienen, wobei die Anwendung von Folter einen integralen Bestandteil bildet (vgl. HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 25 (Nr. 97), S. 65 (Nr. 258, 260), S. 68 (Nr. 270) [G 6/16]). Damit zielen die Maßnahmen jedoch nicht individuell auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Betroffenen ab, sondern sind vielmehr Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des eritreischen Regimes, dessen Durchsetzung gegenüber der Bevölkerung für sich genommen noch keine politische Verfolgung darstellt. [...]

Aus dem sogenannten "Reueformular", welches Eritreer im Ausland, die sich der Nationaldienstpflicht entzogen haben, unterzeichnen müssen, bevor sie Zugang zu – insbesondere konsularischen – Dienstleistungen von eritreischen Behörden erhalten, folgt keine andere Bewertung. Die Stellungnahme von Amnesty International an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 2. August 2018 (G 16/18) geht insoweit unzutreffend davon aus, das Formular enthalte ein Geständnis dahingehend enthalte, dass die Betroffenen "Verrat" begangen hätten. Vielmehr heißt es in dem Formular lediglich, dass der Unterzeichnende bedauere, dadurch ein Vergehen begangen zu haben, den Nationaldienst nicht zu erfüllen, und dass er bzw. sie bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren (vgl. die englische Übersetzung des "Immigration and Citizenship Services Request Form" in: HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5.6.2015, S. 477 [G 6/15]: "[…] I regret having committed an offence by not completing the national service and am ready to accept appropriate punishment in due course"). [...]

Gerade die Möglichkeit, dass illegal ausgereiste Eritreer, nachdem sie sich drei Jahre im Ausland aufgehalten haben, gegen Zahlung einer sogenannten Aufbau- bzw. Diasporasteuer ("2 %-Steuer") und – bei Nichterfüllung der Nationaldienstpflicht – Unterzeichnung eines sogenannten Reueformulars in der Regel unbehelligt nach Eritrea ein- und wieder ausreisen und sich dort jedenfalls vorübergehend, etwa zu Besuchszwecken, aufhalten können (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63 ff. [G 4/19]; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 32 ff., 41, 43 [G 8/16]; AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 2 [G 8/17]) zeigt, dass der eritreische Staat von einer Bestrafung solcher Personen ohne Rücksicht auf deren (vermeintlich) abweichende politische Überzeugung zugunsten ökonomischer Interessen absieht (so auch VG Berlin, Urt. v. 1.9.2017, 28 K 166.17.A, juris Rn. 44; VG Düsseldorf, Urt. v. 23.3.2017, 6 K 7338/16.A, juris Rn. 202).

Gegen die generelle Unterstellung einer Regimegegnerschaft durch den eritreischen Staat spricht schließlich auch, dass der Nationaldienst heute neben Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Steigerung der Gewinne der staatlich unterstützten Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung dient und seine anfängliche Funktion als "Schule der Nation" in den Hintergrund getreten ist (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 106; vgl. auch HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 58 (Nr. 234) [G 6/16]). Angehörige des militärischen Teils des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, wie dem Bau von Wohnungen, Dämmen, Straßen, Kliniken oder Schulen, und in der Landwirtschaft. Angehörige des zivilen Teils des Nationaldienstes arbeiten zudem in Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung (vgl. SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f. [G 8/16]; HRC, Detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 8.6.2016, S. 22 f. (Nr. 88 ff.) [G 6/16]; SFH, Eritrea: Nationaldienst, 30.6.2017, S. 7 [G 3/17]). [...]

Letztlich kann aufgrund der zuletzt massenhaften Flucht von mehreren zehntausend eritreischen Staatsangehörigen (im Jahr 2019 allein über 70.000 Flüchtlinge, vgl. HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mai 2020, S. 14 [G 12/20]); vgl. auch HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5.6.2015, S. 42 (Nr. 151) [G 6/15]; UKHO, Report of a Home Office Fact-Finding Mission, Eritrea: illegal exit and national service, Conducted 7-20 February 2016, Oktober 2016, S. 96 f. (Nr. 11.5.1, 11.5.2) [G 13/16]) nicht vernünftigerweise unterstellt werden, dass der eritreische Staat – jedenfalls weiterhin – jedem einzelnen Flüchtenden generell eine oppositionelle politische Haltung unterstellt. Denn auch dem eritreischen Staat muss bewusst sein, dass die übergroße Zahl der Emigranten Eritrea in erster Linie aufgrund der prekären Lebensbedingungen im Nationaldienst und aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Haltung verlässt (vgl. auch UK Upper Tribunal (IAC), Urt. v. 7.10.2016, Eritrea CG [2016] UKUT 00443, Rn. 337 [G 7/16]). [...]

(c) Entgegen der Auffassung der Klägerin folgt aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur flüchtlingsschutzrechtlichen Relevanz von Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt (insbesondere Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris) nichts Anderes. Der Europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass es auch im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU (wortlautidentisch umgesetzt in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) einer Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung bedarf. Die Verfolgung muss gerade wegen eines in § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 3b Abs. 1 AsylG genannten Grundes erfolgen. Die Plausibilität dieser Verknüpfung ist durch die zuständigen nationalen Behörden zu prüfen, wenn die Verweigerung des Militärdienstes unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen erfolgt, da in diesem Fall eine starke Vermutung für eine Verknüpfung besteht (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris Rn. 61). Die Verweigerung des Militärdienstes, um nicht an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG mitzuwirken oder diese zu unterstützen, dürfte regelmäßig Ausdruck einer politischen Überzeugung sein (OVG Hamburg, Urt. v. 11.1.2018, 1 Bf 81/17.A, juris Rn. 154).

Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Regierung Eritreas aktuell im Konflikt um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray auf Seiten der äthiopischen Regierung involviert ist und die Klägerin in diesem Zusammenhang auf einen Bericht der belgischen Nichtregierungsorganisation "Europe External Programme with Africa" (Situation Report EEPA HORN, Nr. 9 v. 27.11.2020) verweist, wonach demobilisierte Eritreer wieder in die Armee einberufen werden für Einsätze in der Region Tigray, ergibt sich nicht, dass die besonderen Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG vorliegen.

So ist bereits der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift nicht eröffnet. Notwendige Voraussetzung hierfür ist, dass der Schutzsuchende im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Militärangehöriger ist oder dies vor seiner Flucht war, und er sich dem Militärdienst durch Flucht entzogen hat oder entzieht. Dies setzt jedenfalls seine Einberufung zum Militärdienst voraus (EuGH, Urt. v. 26.2.2015, C-472/13, juris Rn. 34; OVG Hamburg, Urt. v. 11.1.2018, 1 Bf 81/17.A, juris Rn. 158). Hieran fehlt es, da die Klägerin in ihrer Anhörung bei der Beklagten darauf verwiesen hat, zum Zeitpunkt ihrer Ausreise noch keinen Einberufungsbefehl erhalten zu haben. Es ist darüber hinaus auch fraglich, ob der Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea ein strafrechtlich relevanter Vorwurf der Verweigerung des Militärdienstes gemacht würde, da sie schon im Zeitpunkt ihrer Ausreise als Mutter eines damals dreijährigen Kindes (allenfalls) mit einer Einberufung in den zivilen Teil des Nationaldienstes rechnen musste. Diese Frage kann jedoch offenbleiben, da auch die weiteren Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG nicht vorliegen. Im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass in dem Tigray-Konflikt eingesetzte eritreische Armeekräfte an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG beteiligt sind.

Schließlich ergibt sich selbst unter der hypothetischen Annahme, die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG seien erfüllt, kein anderes Ergebnis. Die in diesem Fall aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erforderliche Plausibilitätsprüfung ergibt aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen dem militärischen und dem zivilen Teil des Nationaldienstes ausnahmsweise eine Widerlegung der Vermutung, dass Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG miteinander verknüpft sind. Wie vorstehend unter (a) ausgeführt, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der eritreische Staat der Klägerin im Falle einer Verweigerung ihrer allenfalls im zivilen Teil des Nationaldienstes abzuleistenden Dienstpflicht eine politische Überzeugung zuschreiben und sie gerade aufgrund dieser bestrafen und inhaftieren würde. Insbesondere ergibt sich weder aus dem von der Klägerin in Bezug genommenen Bericht des "Europe External Programme with Africa" noch aus anderen Erkenntnisquellen, dass die Involvierung von Teilen der eritreischen Armee in den Tigray-Konflikt dazu führt, dass der eritreische Staat aktuell in der Verweigerung des Nationaldienstes – ziviler Teil – eine politische Opposition erblicken würde. [...]