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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.10.2020 - 2 M 89/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 38) - asyl.net: M29175
https://www.asyl.net/rsdb/M29175
Leitsatz:

Absehen vom Visumsverfahren in der Türkei wegen Trennung vom deutschen Kind:

"Eine auch nur vorübergehende Trennung eines Ausländers von seinem deutschen Kind zur Nachholung des Visumverfahrens kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn der Trennungszeitraum nicht absehbar ist (Rn.15)."

(Amtlicher Leitsatz; mit detaillierten aktuellen Ausführungen zum Visumsverfahren der deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei aufgrund der Corona-Pandemie)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Familienzusammenführung, Türkei, Corona-Virus, deutsches Kind, Kindeswohl, Trennung, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 31 Abs. 3, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

15 Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 - a.a.O. Rn. 31 f. m.w.N.). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 22; Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - a.a.O. Rn. 14; Beschluss vom 9. Januar 2009 - 2 BvR 1064/08 - juris Rn. 17).

16 Bei Anwendung dieser Grundsätze steht die enge persönliche Verbundenheit des Antragstellers mit seiner Tochter einer Ausreise in die Türkei zur Nachholung des Visumverfahrens entgegen. [...]

19 Auch eine nur vorübergehende Trennung des Antragstellers von seiner Tochter zur Nachholung des Visumverfahrens ist angesichts der sehr engen und schützenswerten Beziehung des Antragstellers zu seiner Tochter nicht zumutbar. Mit der erst ca. 6 Monate alten Tochter des Antragstellers ist ein noch sehr kleines Kind betroffen, das nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besonders schutzbedürftig ist. Auf der anderen Seite ist der in Rede stehende Trennungszeitraum in keiner Weise absehbar. Es gibt derzeit - bei summarischer Prüfung - keine belastbaren Erkenntnisse über die Dauer eines Visavergabeverfahren für ein nationales Visum für eine Familienzusammenführung an den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei. Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, für das Visumverfahren sei eine Zeitspanne von "einigen Wochen" zu erwarten und das Verfahren werde trotz der Corona-Pandemie "nicht unzumutbar lange" dauern, gibt es keine erkennbare Grundlage. Das gilt auch für die vom Antragsgegner in seinem Schreiben vom 8. Juni 2020 zum Ausdruck gebrachte Einschätzung, der Antragsteller müsse zur Nachholung des Visumverfahrens "nur wenige Tage" in sein Heimatland ausreisen. Im Gegenteil lassen die offiziellen Verlautbarungen der deutschen Vertretungen in der Türkei nicht erkennen, ob der Antragsteller derzeit überhaupt in der Lage wäre, auch nur einen Termin für die Beantragung eines nationalen Visums zu erhalten. Zur Terminvergabe für die Beantragung eines nationalen Visums heißt es in den aktuellen Informationen zum Visavergabeverfahren und zu Quarantäneregelungen bei Einreise nach Deutschland (https://tuerkei.diplo.de/tr-de/-/2319090#content_1), für das Visavergabeverfahren an den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei gälten aktuell besondere Voraussetzungen. Für die Beantragung eines nationalen Visums in der Fallkonstellation der Familienzusammenführung sei das Online-Terminvergabesystem des externen Dienstleisters iDATA zu nutzen. Hierbei sei zu beachten, dass aufgrund der geltenden Einreisebeschränkungen einige wenige Fallkonstellationen noch nicht angenommen werden dürften und dass es aufgrund des erheblichen Antragsaufkommens einige Zeit dauern könne, bis die Terminnummer in einen Termin umgewandelt werde. Zudem gibt es die "Info", dass die Annahme im Ausnahmefall bedeute, dass der Antrag geprüft werde. Eine automatische Visumerteilung folge aus der Annahme nicht. Hieraus ergibt sich, dass zumindest mit (erheblichen) Wartezeiten zu rechnen ist, bis ein Antragsteller einen Termin zur Beantragung eines nationalen Visums erhält. Zudem deutet die "Info" darauf hin, dass - entsprechend der ausdrücklichen Regelung für Schengenvisa - Anträge auf Erteilung eines nationalen Visums derzeit "nur in Ausnahmefällen unter bestimmten Bedingungen" angenommen werden, wobei unklar ist, ob die Fallkonstellation der Familienzusammenführung ein solcher Ausnahmefall ist. Ebenfalls keine belastbaren Erkenntnisse gibt es im Hinblick auf die Dauer des sich an die Antragstellung anschließenden Zeitraums der Prüfung der Erteilung des Visums. Die Annahme des Antragsgegners, die gewöhnliche Bearbeitungsdauer für ein Visum zur Familienzusammenführung liege für Visumsanträge bei den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei zwischen 3 und 5 Tagen, ist durch nichts belegt. [...]

21 Es kommt hinzu, dass die Türkei weiterhin als Risikogebiet eingestuft ist (https://www.auswaertigesamt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962), so dass im Hinblick auf möglicherweise steigende Corona-Zahlen nicht absehbar ist, ob eine Rückreise des Antragstellers nach Erteilung eines Visums ohne weitere Verzögerungen möglich sein wird. [...]