Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde:
"1. Bei der Entscheidung unionsrechtlich vollständig determinierter Rechtsfragen kommen die Grundrechte des Grundgesetzes nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab zur Anwendung. Maßgeblich sind grundsätzlich die Unionsgrundrechte.
2. Bei der Auslegung der Grundrechte der Charta der Europäischen Union sind sowohl die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten Konventionsrechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, heranzuziehen.
3. Im Rahmen des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds gewährleistet das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsschutz in Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Union, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten.
4. Bei der von dem mitgliedstaatlichen Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt.
5. Aus Art. 4 GRCh folgt die Pflicht der mit einem Überstellungsersuchen befassten Fachgerichte, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob für den zu Überstellenden eine echte Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
6. Die vom Gerichtshof der Europäischen Union bei der Auslegung des Art. 4 GRCh angewandten Maßstäbe decken sich mit Art. 1 Abs. 1 GG sowohl hinsichtlich der Mindestanforderungen an Haftbedingungen im ersuchenden Staat als auch hinsichtlich der damit verbundenen Aufklärungspflichten des mit dem Überstellungsersuchen befassten Gerichts.
7. Eine unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründete Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts im Rahmen der Identitätskontrolle ist angesichts des durch Art. 4 GRCh gewährleisteten Grundrechtsschutzes im vorliegenden Fall nicht veranlasst."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Der Rechtsstreit der Ausgangsverfahren beider Verfassungsbeschwerden betrifft eine unionsrechtlich vollständig determinierte Materie (1. a). Deshalb kommen die Grundrechte des Grundgesetzes vorliegend nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab zur Anwendung (1. b). Die Beschwerdeführer können sich aber auf die Rechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berufen, die vom Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung der Entscheidungen der Fachgerichte als Kontrollmaßstab für die richtige Anwendung des einschlägigen Unionsrechts herangezogen werden (2. und 3.).
1. a) Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (vgl. BVerfGE 140, 317 <343 Rn. 52>; 147, 364 <382 Rn. 46>).
b) Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich (vgl. BVerfGE 152, 216 <233 ff. Rn. 42 ff.>). Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte als unmittelbarer Kontrollmaßstab beruht auf der Anerkennung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und lässt die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes als solche unberührt. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden ist jeweils die Kontrolle einer Entscheidung eines deutschen Fachgerichts daraufhin, ob es bei der ihm obliegenden Anwendung des Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Grundrechtecharta Genüge getan hat. In solchen Fällen kann sich das Bundesverfassungsgericht nicht aus der Grundrechtsprüfung zurückziehen. Vielmehr gehört es zu seinen Aufgaben, Grundrechtsschutz am Maßstab der Unionsgrundrechte zu gewährleisten. Deshalb kontrolliert das Bundesverfassungsgericht, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes im konkreten Fall durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, dessen Anwendung durch deutsche Behörden und Gerichte am Maßstab der Unionsgrundrechte (vgl. BVerfGE 152, 216 <236 Rn. 50 und 237 Rn. 52>).
2. a) Die Unionsgrundrechte gehören heute zu den gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsgewährleistungen und bilden ein Funktionsäquivalent zu den Grundrechten des Grundgesetzes. Wie diese dienen sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts nach Art. 51 Abs. 1 GRCh dem Schutz der Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind Maßstab für jede Art unionsrechtlichen Handelns, der gegebenenfalls auch gerichtlich durchsetzbar ist (vgl. BVerfGE 152, 216 <239 f. Rn. 59>). In ihrer Präambel beruft sich die Charta dabei – wie schon in Art. 6 Abs. 3 EUV – auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie die in internationalen Übereinkommen und in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Wie auch das Grundgesetz stellt sie den Menschen in den Mittelpunkt und bestimmt in Art. 52 Abs. 3 GRCh, dass Rechte der Charta, die den in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. In Art. 52 Abs. 4 GRCh wird zudem festgehalten, dass Rechte der Charta, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden. Daraus folgt, dass bei der Auslegung der Rechte der Charta sowohl die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten Konventionsrechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, heranzuziehen sind.
b) Die Europäische Union ist ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund (vgl. BVerfGE 140, 317 <338 Rn. 44>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 u.a. -, Rn. 111). Im Rahmen des Verfassungsgerichtsverbunds gewährleistet das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsschutz in enger Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. BVerfGE 152, 216 <243 f. Rn. 68>), dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten.
Die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen am Maßstab der in der Charta gewährleisteten Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Gerichtshof der Europäischen Union deren Auslegung bereits geklärt hat oder die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze aus sich heraus offenkundig sind – etwa auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die im Einzelfall auch den Inhalt der Charta bestimmt (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), oder unter Heranziehung der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungs- und Höchstgerichte zu Grundrechten, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und den in der Charta der Grundrechte gewährleisteten Grundrechten entsprechen (vgl. Art. 52 Abs. 4 GRCh). Andernfalls müssen Fragen zur Auslegung der Rechte der Charta dem Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgelegt werden (vgl. BVerfGE 152, 216 <244 Rn. 70>).
c) Die Anwendung der Charta der Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht lässt die Vorbehalte der Ultra-vires-Kontrolle und der Identitätskontrolle (vgl. BVerfGE 123, 267 <353 f.>; 126, 286 <302 ff.>; 134, 366 <382 ff. Rn. 22 ff.>; 140, 317 <336 f. Rn. 42 f.>; 142, 123 <194 ff. Rn. 136 ff.>; 146, 216 <252 ff. Rn. 52 ff.>; 151, 202 <287 ff. Rn. 120 ff.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 u.a. -, Rn. 105 ff.) auch im vollständig vereinheitlichten Bereich des Unionsrechts unberührt (vgl. BVerfGE 152, 216 <236 Rn. 49>). Mit der Gewährleistung der Grundrechte in der Konkretisierung, die sie durch die Charta erfahren haben, dürfte eine Berührung der von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Grundsätze jedoch in der Regel vermieden werden. [...]