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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.11.2020 - 2 L 104/18 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 53) - asyl.net: M29171
https://www.asyl.net/rsdb/M29171
Leitsatz:

Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug trotz generalpräventiven Ausweisungsinteresses:

"1. Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur dann entgegen, wenn es noch aktuell ist, das heißt zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden ist. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungs­interesses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist für die vorzunehmende gefahrenabwehr­rechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 16 ff.).

2. Bei der Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommt dem Bleibeinteresse des mit seiner minderjährigen deutschen Tochter in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenlebenden ausländischen Vaters nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonderes Gewicht zu. Demgegenüber wiegt das generalpräventiv begründete Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG insbesondere dann weniger schwer, wenn die Aktualität des Ausweisungsinteresses zweifelhaft erscheint.

3. Einer minderjährigen deutschen Staatsangehörigen, die seit ihrer Geburt in Deutschland mit ihrem ausländischen Vater und ihrer über eine Niederlassungserlaubnis verfügenden ausländischen Mutter in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenlebt, ist ein Verlassen des Bundesgebietes zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nicht zumutbar. Dem steht nicht entgegen, dass sie neben der deutschen auch die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern besitzt.

4. Mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Mai 2020 (1 C 12.19 - juris Rn. 54 ff.) ist geklärt, dass § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV auch für den Fall Anwendung findet, dass dem Ausländer zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurde und dieser nunmehr die Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG begehrt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Generalpräventiver Zweck, Ausweisungsinteresse, familiäre Lebensgemeinschaft, deutsches Kind, Visumsverfahren, Bleibeinteresse,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 27 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9, AufenthV § 39 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

35 (1) Ein spezialpräventiv begründetes Ausweisungsinteresse liegt nicht mehr vor. Da eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen voraussetzt, dass bei dem Ausländer eine konkrete Wiederholungsgefahr besteht, ist ein Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei der Erteilung eines Aufenthaltstitels auch nicht mehr erheblich, wenn eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen werden kann (Beschluss des Senats vom 12. November 2018, a.a.O., Rn. 17, m.w.N.). So liegt es hier. Da der Kläger im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, ist nicht zu befürchten, dass er nochmals Straftaten der in Rede stehenden Art begehen wird. Es bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass er anderweitig strafrechtlich in Erscheinung treten oder in erheblicher Art und Weise gegen sonstige Rechtsvorschriften verstoßen wird. Dies macht auch die Beklagte nicht geltend. [...]

44 Gemessen daran ist im vorliegenden Fall von der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Es besteht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse des Antragstellers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, da er mit seiner deutschen Tochter seit ihrer Geburt in Deutschland in familiärer Lebensgemeinschaft lebt.

45 Der Kläger kann nicht darauf verwiesen werden, die familiäre Lebensgemeinschaft könne auch in Vietnam gelebt werden. Seiner Tochter, die mit ihm und der über eine Niederlassungserlaubnis verfügenden Mutter zusammenlebt, ist ein Verlassen des Bundesgebietes zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nicht zumutbar. Dem steht nicht entgegen, dass die Tochter des Antragstellers - soweit ersichtlich - nicht nur die deutsche, sondern auch die vietnamesische Staatsangehörigkeit besitzt. Denn die weitere Staatsangehörigkeit führt nicht zu einer Beschränkung der Rechtswirkungen der deutschen, insbesondere des Rechts auf Aufenthalt in Deutschland nach Art. 11 GG (BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 - 10 C 12.12 - juris Rn. 30). Abgesehen von den in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Fällen besteht für deutsche Behörden keine Handhabe, den Aufenthalt eines Deutschen im Bundesgebiet zu beenden. Dies gilt auch bei Minderjährigen; deren Aufenthalt im Bundesgebiet kann nur auf der Grundlage einer aufenthaltsbestimmungsrechtlichen Entscheidung des bzw. der Personensorgeberechtigten beendet werden. Der Zwang, der auf einen deutschen Staatsangehörigen durch Vorenthaltung einer Aufenthaltserlaubnis für seinen ausländischen Familienangehörigen ausgeübt wird, entweder das Bundesgebiet verlassen oder die Trennung der familiären Gemeinschaft hinnehmen zu müssen, um im Bundesgebiet bleiben zu können, steht in Widerspruch zum Schutzgebot des Art. 6 GG (zum Ganzen: OVG RP, Urteil vom 18. April 2012 - 7 A 10112/12 - juris Rn. 37, m.w.N.). Selbst wenn anzunehmen sein sollte, die Beendigung des Aufenthaltes des Klägers verstoße nicht gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG, weil zur Erhaltung seiner Lebensgemeinschaft mit seiner Tochter, die auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, die Familie des Klägers gemeinsam nach Vietnam ausreisen könnte, so gälte anderes jedenfalls vor dem Hintergrund von Art. 20 AEUV. Diese Bestimmung verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser Status ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Unter diesen Umständen steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (so das Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 8. März 2011 - C-34/09 - "Ruiz Zambrano", Rn. 40 ff., m.w.N.). Würde die Tochter des Klägers, obwohl sie (auch) Unionsbürgerin ist, gezwungen, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten, wäre es ihr unmöglich, den Kernbestand der Rechte, die ihr der Unionsbürgerstatus verleiht, tatsächlich in Anspruch zu nehmen (vgl. Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 8. März 2011, a.a.O., Rn. 43; OVG RP, Urteil vom 18. April 2012, a.a.O., Rn. 39). Den familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet hat im Übrigen auch die Beklagte Rechnung getragen, indem sie dem Kläger zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Tochter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt hat.

46 Demgegenüber wiegt das möglicherweise noch bestehende Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG weniger schwer. Die dem Kläger vorzuwerfenden Verletzungen (strafbewehrter) aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen haben kein solches Gewicht (mehr), dass sie das Interesse des Klägers und seiner Familie an einer Verfestigung ihrer familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland verdrängen (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. März 2019 - OVG 11 B 5.17 - juris Rn. 30, 33). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass die Aktualität des Ausweisungsinteresses aus den oben dargelegten Gründen zweifelhaft erscheint. [...]

50 d) Der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG steht auch nicht entgegen, dass der Kläger ohne das erforderliche Visum in das Bundesgebiet eingereist ist (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

51 Gemäß § 39 Nr. 1 Satz 1 AufenthV kann ein Ausländer über die im AufenthG geregelten Fälle hinaus einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet u.a. dann einholen oder verlängern lassen, wenn er eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. So liegt es hier. Der Kläger ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Mai 2020 (1 C 12.19 - juris Rn. 54 ff.) ist geklärt, dass § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV auch für den Fall Anwendung findet, dass dem Ausländer zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurde und dieser nunmehr die Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG begehrt. [...]