Duldung für Opfer sexueller Belästigung:
1. Eine Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 2 AufenthG ist zu erteilen, wenn die Anwesenheit der betroffenen Person für die Durchführung eines Strafverfahrens für notwendig erachtet wird. Die Notwendigkeit ist durch die Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht zu beurteilen. Deren Einschätzung darf nicht durch die der Ausländerbehörde oder des Verwaltungsgerichts ersetzt werden.
2. Ein Duldungsgrund wegen eines Strafverfahrens kann sich darüber hinaus nach § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG auch aus dringenden persönlichen Gründen ergeben, wenn die betroffene Person Opfer einer Straftat geworden ist und ein erhebliches Interesse am Ausgang des Strafverfahrens geltend machen kann.
3. Im vorliegenden Fall ergibt sich ein Duldungsanspruch, da die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, Opfer einer sexuellen Belästigung nach § 184i StGB geworden zu sein und somit ein erhebliches Interesse am Ausgang des Strafverfahrens zu haben.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist eine Abänderung des Beschlusses der Einzelrichterin vom 27.09.2019 angezeigt. Die Antragstellerin hat wesentlich veränderte Umstände vorgetragen, aus denen sich ergibt, dass ihr Interesse am vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Vollzugsinteresse an der nach § 80 Abs. 2 S.1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung nunmehr überwiegt.
Ein Duldungsgrund nach § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG liegt zunächst nicht vor. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre. Bei der angezeigten Straftat nach § 184i StGB handelt es sich um ein Delikt, welches mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet wird. Ausweislich der Definition in § 12 Abs. 1 StGB handelt es sich demnach nicht um ein Verbrechen. Zudem fehlt es hier an der erforderlichen Mitteilung durch die Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht, nach der die Anwesenheit der Antragstellerin im Bundesgebiet als sachgerecht erachtet wird. Im Rahmen der Vorschrift ist auch nicht zu prüfen, ob eine solche Erklärung zu erteilen wäre. Weder die Ausländerbehörde noch die Verwaltungsgerichte haben zu entscheiden, ob die Anwesenheit eines Ausländers für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens erforderlich ist. Darüber befinden Staatsanwaltschaften und Strafgerichte in eigener Zuständigkeit und Verantwortung. Diese Kompetenzzuweisung ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und der Regelungssystematik. Durch die Verwendung der Wörter "erachtet wird" macht der Gesetzgeber deutlich, dass es ihm im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Anwesenheit eines Ausländers für ein Strafverfahren auf die Einschätzung der für dieses Verfahren zuständigen Stellen ankommt (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 19.12, 2018 - 7 B 11346/18 - juris, Rn. 7).
Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass wegen der Strafanzeige vom ... ein dringender persönlicher Grund anzunehmen ist. Ihr ist daher eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen [ist].
Eine Duldung nach dieser Vorschrift kommt in Betracht, wenn nach dem Vorbringen des Antragstellers und auf Grund der Aktenlage offensichtlich ist, dass die Antragstellerin Opfer eines Verbrechens war, für dessen Aufklärung sie in Deutschland bleiben müsste. Neben § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG kommt eine Duldung wegen eines Strafverfahrens allenfalls in Betracht, wenn der betroffene Ausländer erhebliche persönliche Interessen an der Strafverfolgung hat. Denn dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse trägt bereits § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG Rechnung. Ein erhebliches persönliches Interesse ist anzunehmen, wenn der Ausländer im Strafverfahren nicht nur als Zeuge in Betracht kommt, sondern Opfer ist. Bei Verbrechensopfern kann das Fehlen einer Erklärung über die Erforderlichkeit der Anwesenheit nicht dazu führen, dass ihnen keine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erteilt werden könnte, zumal das Nichtvorliegen dieser Erklärung vielfältige Gründe haben kann (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 19.12.2018 - 7 B 11346/18, 7 D 11347/18 - juris, Rn. 8).
Da der Anzeige der Antragstellerin ein Vergehen zu Grunde liegt, ist hier zwar kein Verbrechenstatbestand gegeben. Sowohl aus der Anzeige als auch aus den weiteren von der Antragstellerin eingereichten Unterlagen ergibt sich, dass es noch weitere Anzeigen gegen den Beschuldigten wegen gleichgelagerter Delikte gibt. Zudem hat die Antragstellerin glaubhaft vorgetragen, dass sie in den sie persönlich betreffenden Fällen als einzige Zeugin in Betracht kommt. Die Antragstellerin hat außerdem glaubhaft gemacht, dass sie selbst Opfer einer Straftat geworden ist und ein erhebliches Interesse am Ausgang des strafrechtlichen (Ermittlungs-) Verfahrens hat. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte ist hier auch beim Vorliegen lediglich eines Vergehenstatbestandes ein dringender persönlicher Grund der Antragstellerin und ein erhebliches öffentliches Interesse glaubhaft gemacht. [...]