OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 27.08.2020 - 6 Bs 53/20, 6 So 39/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 51 ff.) - asyl.net: M29108
https://www.asyl.net/rsdb/M29108
Leitsatz:

Abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörigen Elternteil:

"1. Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht drittstaatsangehöriger Elternteile kann sich auch dann aus dem Primärrecht der Union sowohl aus Art. 21 AEUV wie auch Art. 20 AEUV ergeben, wenn das Sekundärrecht aufgrund des begrenzten personellen Anwendungsbereichs auf diesen Elternteil keine Anwendung findet.

2. Auf der Grundlage von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG besteht ein abgeleitetes Aufenthalts­recht des drittstaatsangehörigen Elternteils, wenn das Unionbürgerkind nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/38/EG freizügigkeitsberechtigt ist und seinem Recht auf Freizügigkeit jede praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn das Unionsbürgerkind mit dem drittstaatsangehörigen Elternteil, der tatsächlich die Sorge für das Unionsbürgerkind ausübt, ein normales Familienleben im Aufnahmemitgliedstaat nicht führen könnte.

3. Ein aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen die elterliche Sorge allein oder überwiegend von dem Aufenthalt begehrenden drittstaatsangehörigen Elternteil ausgeübt wird."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürgerkind, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehöriger Elternteil, EU-Staatsangehörige, Kind, Eltern-Kind-Verhältnis,
Normen: AEUV Art. 21, AEUV Art. 20, RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. d, RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. a,
Auszüge:

[...]

1 Der Antragsteller zu 1. ist beninischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem Jahr 2013 im Bundesgebiet auf. [...] Der Antragsteller zu 1. ist Vater der am ... 2017 geborenen Antragstellerin zu 2., die wie ihre in Hamburg lebende Mutter rumänische Staatsangehörige ist. Der Antragsteller zu 1. und die Mutter der Antragstellerin zu 2. haben vereinbart, die elterliche Sorge für das Kind von Geburt an gemeinsam ausüben. [...]

15 Der einstweilige Rechtsschutzantrag ist zulässig. Insbesondere ist auch die Antragstellerin zu 2. antragsbefugt, weil sie geltend machen kann, dass die beabsichtigte Abschiebung ihres Vaters in ihre rechtlich geschützte Sphäre, ihr Recht auf Familienleben, eingriffe (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.2.2020, 1 AV 1.20, AuAS 2020, 91, juris Rn. 11 m.w.N.).

16 Die Antragsteller haben im Beschwerdeverfahren zudem mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass ein Anordnungsanspruch (a.) und ein Anordnungsgrund (b.) vorliegen (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

17 a. Der Anordnungsanspruch des Antragstellers zu 1., vorläufig von einer Abschiebung verschont zu bleiben, folgt - nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage - überwiegend wahrscheinlich daraus, dass er ein im Unionsrecht (Art. 21 AEUV) begründetes und von seiner Tochter, der Antragstellerin zu 2., abgeleitetes Aufenthaltsrecht inne hat.

18 Ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers ergibt sich zwar nicht aus dem unionsrechtlichen Sekundärrecht bzw. den in Umsetzung des Sekundärrechts erlassenen Vorschriften des Freizügigkeitsgesetzes/EU (aa.). Ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1. ist aber erforderlich, damit die Antragstellerin zu 2. die ihr von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (nachfolgend: RL 2004/38/EG) verliehenen Rechte wirksam ausüben kann (bb.).

19 aa. Das unionsrechtliche Sekundärrecht und das in Umsetzung des Sekundärrechts ergangene Freizügigkeitsgesetz/EU steht einer Abschiebung des Antragstellers zu 1. nicht entgegen. [...]

22 bb. Einer Abschiebung des Antragstellers zu 1. dürfte nach Auffassung des Senats aber entgegenstehen, dass er aus Art. 21 AEUV ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht eigener Art hat, da seine Tochter, die Antragstellerin zu 2., nach Art. 21 AEUV i.V.m. Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG freizügigkeitsberechtigt ist und diesem Freizügigkeitsrecht in Fällen der vorliegenden Art ansonsten jede praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn sie ein normales Familienleben mit dem drittstaatsangehörigen Elternteil, der tatsächlich die Sorge für das Unionsbürgerkind ausübt, im Aufnahmemitgliedstaat - vorliegend in der Bundesrepublik Deutschland - nicht führen könnte.

23 Aus der Rechtsprechung des EuGH zum abgeleiteten Aufenthaltsrecht drittstaatsangehöriger Elternteile folgt, dass sich aus dem Primärrecht der Union - sowohl aus Art. 21 AEUV wie auch Art. 20 AEUV - auch dann ein Recht des Unionsbürgers auf ein Familienleben mit seinem drittstaatsangehörigen Elternteil im Aufnahmemitgliedstaat ergeben kann, wenn das Sekundärrecht aufgrund des begrenzten personellen Anwendungsbereichs der Richtlinie 2004/38/EG keine Anwendung findet (vgl. die Übersicht der Rechtsprechung bei Rossi, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.3.2020, Art. 21 AEUV Rn. 21).

24 Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Elternteils kann danach zum einen auf der Grundlage von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG in den Fällen bestehen, in denen dem Recht auf Freizügigkeit des Unionsbürgers nach diesen Vorschriften jede praktische Wirksamkeit genommen würde, sollte dem für einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich das Sorgerecht wahrnehmenden Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, nicht erlaubt sein, sich mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten. [...]

25 Liegen die Voraussetzungen von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG nicht vor, vermag zum anderen bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte auch Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für ein Elternteil eines Unionsbürgerkindes begründen. Das setzt aber voraus, dass - obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat - einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist, dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, nämlich wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (Urt. v. 8.3.2011, C-34/09 [……], Slg 2011, I-1177-1253, juris Rn. 43 f.; Urt. v. 13.9.2016, C-165/14 [……], NVwZ 2017, 39, juris Rn. 74).

26 Hierbei handelt es sich jeweils um ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht eigener Art, dessen Vorliegen gegebenenfalls zu bescheinigen ist (vgl. zum Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV: BVerwG, Urt. v. 12.7.2018, 1 C 16.17, BVerwGE 162, 349, juris Rn. 34).

27 Vorliegend dürfte ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1. auf der Grundlage von Art. 21 AEUV i.V.m. der Richtlinie 2004/38/EG bestehen. Seine Tochter, die Antragstellerin zu 2., ist nach Art. 21 AEUV i.V.m. Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG freizügigkeitsberechtigt (1). Sie kann ihr Recht auf Freizügigkeit zudem nur wirksam ausüben, wenn ihr Vater, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, ein Aufenthaltsrecht zuerkannt wird (2).

28 (1) Die Antragstellerin zu 2. ist nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/38/EG als Verwandte in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, die ihre Mutter, eine Unionsbürgerin, die die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/38/EG erfüllt, begleitet, selbst freizügigkeitsberechtigt. [...]

29 Die Mutter der Antragstellerin zu 2. erfüllt als Arbeitnehmerin die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/38/EG. Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff wird weder im Primär- noch Sekundärrecht definiert und ist daher unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH zu bestimmen (vgl. Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3 FreizügG/EU Rn. 36; Tewocht in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.3.2020, § 2 FreizügG/EU Rn. 18). [...]

31 Ist das Unionsbürgerkind, hier die Antragstellerin zu 2., freizügigkeitsberechtigt, und zwar als Kind einer Arbeitnehmerin unabhängig davon, ob es über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, kann auch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines Elternteils nicht davon abhängig gemacht werden, ob die erforderlichen Mittel vorhanden sind (so auch VGH München, Urt. v. 25.5.2019, 10 BV 18.281, juris Rn. 32). Ausdrücklich thematisiert der EuGH in seinen jüngeren zu der Richtlinie 2004/38/EG ergangenen Entscheidungen zwar allein die Frage, ob das Unionsbürgerkind, für das der drittstaatsangehörige Elternteil tatsächlich sorgt, über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG verfügt (Urt. v. 13.9.2016, C-165/14 [......], NVwZ 2017, 39, juris Rn. 49; Urt. v. 10.10.2013, C-86/12 [……], ZAR 2014, 125, juris Rn. 30; so im Ergebnis auch zu Art. 18 EG und der Richtlinie 90/364 Urt. v. 19.10.2004, C-200/02 [……], Slg 2004, I-9925-9970, juris Rn. 47). Zur Überzeugung des Senats dürften die Ausführungen des EuGH aber allein im Kontext der jeweiligen Sachverhaltskonstellation zu sehen sein, wonach von vornherein allein ein Recht auf Aufenthalt des minderjährigen Kindes nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/38/EG in Betracht zu ziehen war, weil das Unionsbürgerkind seinerseits kein von den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG unabhängiges Aufenthaltsrecht von einem weiteren Elternteil ableiten konnte (vgl. VGH München, Urt. v. 25.5.2019, a.a.O.).

32 (2) Maßgeblich ist daher auch in der vorliegenden Fallkonstellation allein die Frage, ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der Angehöriger eines Drittstaats ist, in der Sache erforderlich ist, damit das Unionbürgerkind sein Recht auf Freizügigkeit wirksam ausüben kann. Davon ist hier bei der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage auszugehen.

33 Der EuGH hat bisher nicht näher ausgeführt, wie die Beziehung eines Elternteils, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, zu seinem freizügigkeitsberechtigten Kind ausgestaltet sein muss, um ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht dieses Elternteils zu begründen. Das gilt insbesondere auch für den Fall, dass sich zwei Elternteile das Sorgerecht teilen, ohne eine häusliche Gemeinschaft zu bilden. [...]

34 Gemessen daran geht das Beschwerdegericht davon aus, dass die Antragstellerin zu 2. ihr Freizügigkeitsrecht nur wirksam ausüben kann, wenn ihrem Vater, dem Antragsteller zu 1., ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt wird. Die Beziehung des Antragstellers zu 1. zu seiner Tochter, der freizügigkeitsberechtigten Antragstellerin zu 2., dürfte im Sinne der genannten Vorschriften schutzwürdig sein. Dem Antragsteller zu 1. steht gemeinsam mit der Mutter die elterliche Sorge für die Antragstellerin zu 2. von Geburt an zu. Die Mutter hat der Antragsgegnerin im Jahr 2018 schriftlich mitgeteilt, dass der Antragsteller zu 1. oft komme, um seine Tochter zu sehen. Er spiele mit ihr und kümmere sich auch um sie. Die detaillierten Angaben im Beschwerdeverfahren sprechen ebenfalls für einen von Anteilnahme getragenen Umgang des Antragstellers zu 1. mit seiner Tochter. Danach verbringt der Antragsteller zu 1. täglich Zeit mit seiner Tochter und er begleitet sie - gemeinsam mit der Mutter - zum Kindergarten, um sie dort einzugewöhnen. Zwar hat der Antragsteller zu 1. seinen eigenen Vortrag im Beschwerdeverfahren nicht weiter belegt. In Anbetracht der formalen Bindung des Antragstellers zu 1. zu seiner Tochter und seines auch im Hinblick auf das Verwaltungsverfahren in sich schlüssigen Vortrags kann ihm, zumal auch die Antragsgegnerin eine schützenswerte Beziehung im Beschwerdeverfahren nicht weiter in Zweifel gezogen hat, aber nicht abgesprochen werden, dass er gleichberechtigt mit der Mutter die Sorge für seine Tochter tatsächlich wahrnimmt. [...]

37 b. Der Anordnungsgrund besteht, weil die Antragsgegnerin weiterhin beabsichtigt, Abschiebemaßnahmen gegen den vollziehbar ausreisepflichtigen Antragsteller zu 1. einzuleiten. [...]