"Stellvertreterehe" für Dublin-Familienzusammenführung beachtlich:
Eine Ehe, bei der sich einer der Ehepartner*innen für die Eheschließung hat vertreten lassen, kann eine nach Art. 9 Dublin III-VO schützenswerte Familieneinheit sein.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
17 Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes vom 10. September 2019 ist zulässig und begründet. Die Entscheidung ergeht durch den Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG. [...]
24 Wohl nichtzutreffend dürfte sich dagegen der Entscheidungsmaßstab der Antragsgegnerin zur Beachtlichkeit der von der Antragstellerin vorgetragenen Ehe mit einem in Deutschland seit 2015 anerkannten Flüchtling erweisen. Beachtlich kann diese vorgetragene Eheschließung, die ausweislich der vorgelegten Übersetzung der Eheurkunde jedenfalls seit dem 3. Juni 2018 und damit vor der erstmaligen Antragstellung in Griechenland am 29. Juni 2019 besteht, für die Kriterien des III. Kapitels der Dublin III-VO sein. Insoweit beruft sich die Antragstellerin auch auf die Anwendung des Art. 9 Dublin III-VO. Nach dieser Vorschrift bestimmt sich die Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates danach, ob der Antragsteller einen Familienangehörigen - ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat -, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, hat, wenn die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Ob die Voraussetzungen dieser Zuständigkeitsnorm für das Asylverfahren der Antragstellerin im Einzelnen erfüllt sind, kann nicht abschließend beurteilt werden. Auch soweit davon auszugehen sein sollte, dass die von der Antragstellerin vorgetragene Stellvertreter-Ehe als beachtliche Familieneinheit im Sinne der Art. 9 und 2 Buchst. g) erster Spiegelstrich Dublin III-VO zu berücksichtigen wäre, ist doch noch ungeklärt, ob auch das Zustimmungserfordernis des Art. 9 Dublin III-VO hier gewahrt ist. Die schriftliche Zustimmung des (behaupteten) Ehemannes der Antragstellerin wurde erstmals im anhängigen Gerichtsverfahren mit Schriftsatz des Antragstellerbevollmächtigten vom 4. Dezember 2019 vorgelegt. Dahingehend hat der Einzelrichter der 17. Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach bereits in einem anderen Verfahren entschieden, dass auch das Zustimmungserfordernis in Artikel 9 Dublin III-VO der Sperrklausel des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO unterliegt (vgl. VG Ansbach, B.v. 20.11.2019 - 17 S 19.51066 - BeckRS 2019, 29391), so dass sich hier die Vorlage der Zustimmung des Ehepartners als verspätet und unbeachtlich erweisen könnte. Auf der anderen Seite entspricht diese Rechtsauffassung nicht allseits gefestigter Meinung in der Kommentarliteratur und Rechtsprechung (vgl. BeckOK MigR/Thomann, 6. Ed. 1.10.2020, VO (EU) 604/2013 Art. 9 Rn. 8; VG Hannover, B.v. 19.4.2018 - 12 B 2392/18 - BeckRS 2018, 8424). Überdies wäre u.U. auch beachtlich, dass ausweislich der Behördenakte der Antragsgegnerin die Antragstellerin nicht über die Voraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO im Einzelnen belehrt wurde. Die sich in der Behördenakte befindenden Informations- und Belehrungsblätter (Bl. 6 u. 7 d. BAMF-Akte) belehren gerade nicht explizit dahingehend, dass auch der Ehepartner der Antragstellerin eine schriftliche Zustimmungserklärung vorlegen muss. Schließlich dürfte es auch an einer hinreichenden Information des ersuchten Staates - Griechenland - über die Prüfungsvoraussetzungen im Sinne des Art. 23 Abs. 4 UAbs. 1 Dublin III-VO in Form sachdienlicher Angaben aus der Erklärung der Antragstellerin fehlen, so dass die Hellenische Republik die Möglichkeit einer Prüfung des Art. 9 Dublin III-VO nicht ohne Weiteres in Betracht zu ziehen hatte (vgl. Bl. 107 - 109 d. BAMF-Akte).
25 Damit ist derzeit nicht abschließend beurteilbar, ob sich die Zuständigkeit der Antragsgegnerin aus Art. 9 Dublin III-VO oder ggf. auch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ergibt. Soweit der Europäische Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren nach der Dublin III-VO entschieden hat, dass sich der Antragsteller in dem zweiten Mitgliedsstaat, in dem er einen weiteren Asylantrag stellt, regelmäßig nicht auf Art. 9 Dublin III-VO berufen kann (vgl. EuGH, U.v. 2.4.2019 - C-582/17, C-583/17 - BeckRS 2019, 4643), gilt dies allerdings nicht absolut. Denn nach diesem Urteil kann sich ein Antragsteller im Rahmen eines Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO in einem von Art. 20 Abs. 5 dieser Verordnung erfassten Fall ausnahmsweise auf dieses Zuständigkeitskriterium berufen, soweit der Drittstaatsangehörige der zuständigen Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats Informationen vorgelegt hat, die eindeutig belegen, dass er gemäß diesem Zuständigkeitskriterium als der für die Prüfung des Antrags zuständige Mitgliedstaat anzusehen ist. Das ist im vorliegenden Fall jedenfalls nicht fernliegend.
26 Da diese Rechtsfragen der Klärung in einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen, ist im Ergebnis eine Folgenabwägung durchzuführen. Hierbei erachtet es das Gericht als ermessensgerecht, zunächst der Antragstellerin ein Bleiberecht bis zur Entscheidung ihrer Klage (im Rahmen des § 80b Abs. 1 VwGO) zuzubilligen und das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin dem gegenüber vorläufig zu dispensieren. [...]