VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 11.09.2020 - 38 K 52/20 A - asyl.net: M29023
https://www.asyl.net/rsdb/M29023
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für staatenlose palästinensische Familie aus dem Libanon:

1. Vom Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft ist auszugehen, wenn eine Person bei der UNRWA registriert wurde und ein ausreichender Schutz durch die Organisation nicht mehr gewährleistet ist.

2. In diesem Fall ist die Prüfungsbefugnis des BAMF darauf beschränkt festzustellen, ob die betroffene Person tatsächlich Schutz und Beistand der UNRWA genossen hat, ob dieser aus von ihren Willen unabhängigen Gründen entfallen ist und dass keine gesetzlichen Ausschlussgründe vorliegen.

3. Im vorliegenden Verfahren ist davon auszugehen, dass ein ausreichender Schutz der vormals bei der UNRWA registrierten Kläger*innen im Libanon nicht mehr gewährleistet werden kann, da es sich bei zwei der Kläger*innen um Kinder mit besonderem medizinischen Betreuungsbedarf handelt und die finanziellen Mittel hierzu durch die Familie und ihr soziales Netzwerk nicht aufgebracht werden können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Palästinenser, UNRWA, Libanon, Familie, medizinische Versorgung, Schwerbehinderung, Attest, ipso-facto,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3 S. 2, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Flüchtling ist danach ein Ausländer, der den Schutz oder Beistand einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen. genossen hat, dem aber ein solcher Schutz nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. Sind diese tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt, ist die Flüchtlingseigenschaft "ipso facto" zuzuerkennen, d.h. der Betroffene genießt den Schutz der Richtlinie unmittelbar, ohne dass es einer Einzelfallprüfung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG bedarf (siehe statt aller BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - BVerwG 1 C 28.18 -, NVwZ 2019, 1360, juris Rn. 18 m.w.N. auch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs). [...]

Beide Voraussetzungen sind im Fall der Kläger erfüllt, so dass ihnen gemäß § 3 Abs. 3 S. 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.

Zum einen sind die Kläger beim UNRWA als Palästinaflüchtlinge registriert gewesen. So hat das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass die Kläger registrierte UNWRA-Flüchtlinge aus dem Libanon seien. Dies bestätigt die detailreichen und insgesamt glaubhaften Angaben des Klägers zu 1.) und seiner Ehefrau, dass die Kläger als palästinensische Flüchtlinge im Libanon registriert gewesen waren.

Zum anderen wird ihnen im Fall einer Rückkehr in den Libanon der Schutz durch das UNRWA nicht länger gewährt. Dazu ist zunächst festzustellen, dass die allgemeine Lage von Palästinensern im Libanon - insbesondere seit Beginn des Syrienkonfliktes - problematisch ist (vgl. ausführlich und mit weiteren Nachweisen Urteil der 34. Kammer vom 9. Februar 2018 - VG 34 K 466.16 A -, juris Rn. 32 ff.; siehe auch VG Chemnitz, Urteil vom 11. Mai 2020 - 5 K 367/18.A - Bl. 99 ff. der Gerichtsakte). Die Aufgabe des UNRWA, die im Wesentlichen darin besteht, durch die Bereitstellung von Nothilfe, Schutz und menschlicher Entwicklung dem Wohlergehen der Palästinaflüchtlinge zu dienen (vgl. UN-GV Resolution 79/91 vom 6. Dezember 2016 - A/RES/71/91), mag das UNWRA im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger (2017) erfüllt haben, kann das das UNRWA aber nunmehr im entscheidungserheblichen Zeitpunkt jedenfalls gegenüber den Klägern aktuell angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht erfüllen. Auf eine Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung, wie sie die Beklagte zu Recht für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG fordert, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Entscheidend ist vielmehr folgendes:

Die minderjährigen Kläger zu 2.) und 5.) bedürfen der besonderen Fürsorge, der Kläger zu 2.) darüber hinaus der stetigen medizinischen Behandlung. So ist der 2004 geborene Kläger zu 2.) wegen einer primären Hirnentwicklungsstörung und einer therapieschwierigen Epilepsie in neuropädiatrischer Behandlung, er bedarf zukünftig der operativen Versorgung und der dauerhaften komplexen therapeutischen Behandlung (Atteste und Schreiben der diesen behandelnden Fachärzte am Vivantes-Klinikum für Kinder- und Jugendmedizin vom ... 2017, ... 2017, ... 2017, ... 2018, ... 2018, ... 2020). Zudem bedarf er aus diesen Gründen der besonderen Betreuung durch seine Eltern. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales hat mit Bescheid vom ... 2018 die Schwerbehinderung des Klägers zu 2.) festgestellt (Grad der Behinderung: 70, aktuelle Gültigkeit: November 2020). Der besondere Betreuungsbedarf des 2003 geborenen Klägers zu 5.) ergibt sich aus dessen grenzwertiger Lerneinschränkung infolge eines Schädelhirntraumas (Attest des diesen im Jahr 2018 behandelnden Facharztes vom ... 2020).

Die für den erkrankten Kläger zu 2.) erforderlichen Ausgaben (insbesondere private Zuzahlungen) überschreiten die mittels familiärer Unterstützung möglichen Finanzmittel der Kläger. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Sicherung des Lebensunterhalts und eben dieser zusätzlich erforderlichen Finanzmittel durch eine Person zu leisten ist, weil die andere Person sich um die Kläger zu 2.) und 5.) kümmern muss, die besonderen Betreuung bedürfen, und zudem die Mutter der Kläger zu 2.) - 5.) selbst durch eine· Erkrankung der Bandscheibe und depressive Episoden in ihrer Erwerbsfähigkeit (Attest vom ... 2019) eingeschränkt ist. Bei der von der Beklagten grundsätzlich zu Recht angeführten Möglichkeit der finanziellen Unterstützung durch die Großfamilie der Kläger, die teils die libanesische Staatsangehörigkeit hat und die Familie der Kläger in der Vergangenheit unterstützt hat, würde es sich angesichts dessen nicht lediglich um eine Unterstützung in der Übergangszeit handeln, sondern um eine stets erforderliche Unterstützung in beträchtlicher Höhe. Insbesondere angesichts der geschilderten aktuellen Lage im Libanon ist nicht ersichtlich, dass die Großfamilie dazu in der Lage ist.

Angesichts dessen ist auch Entscheidung der übrigem Kläger, sich nicht erneut unter den Schutz des UNRWA zu begeben, durch Zwänge begründet, die vom Willen des Betroffenen unabhängig sind (zur Rückkehr im Familienverbund siehe BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - BVerwG 1 C 45.18 -, Asylmagazin 2019, 31 f.; juris Rn. 16 ff.). [...]