OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 16.11.2020 - 2 B 220/20 - asyl.net: M29012
https://www.asyl.net/rsdb/M29012
Leitsatz:

Abschiebung nach mehrere Jahre zurückliegender bestandskräftiger Ausweisung rechtmäßig:

"1. Liegt der Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung schon mehrere Jahre zurück, ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Abschiebung zu prüfen, ob inzwischen eine Verwurzelung eingetreten ist, die zu einem Abschiebungs- bzw. Ausreisehindernis aus Art. 8 EMRK führt. Allein das Entfallen der Wiederholungsgefahr würde hierfür indes nicht ausreichen.

2. Zum Abweichen von einer Strafrestaussetzung durch die Strafvollstreckungskammer wegen einer breiteren Tatsachengrundlage.

3. Der Umstand, dass ein Platz in einer Drogentherapie zur Verfügung steht, steht einer Abschiebung nicht entgegen, wenn der Ausländer aufgrund einer bestandskräftigen Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig ist, der Schutz des Privat- und Familienlebens einen weiteren Aufenthalts nicht gebietet, Reisefähigkeit gegeben ist und es keine konkreten Anhaltspunkte für eine besondere Wahrscheinlichkeit des Therapieerfolgs gibt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Straftat, Drogenabhängigkeit, Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Drogentherapie, Ausreisepflicht, Integration, Abchiebungsandrohung, Achtung des Privatlebens, Schutz von Ehe und Familie, Reisefähigkeit, Verwurzelung, Wiederholungsgefahr,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 4, AufenthG § 60a, AufenthG § 60a Abs. 2, EMRK Art. 8, StGB § 57,
Auszüge:

[...]

II. Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Senat auf die dargelegten Gründe beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ist unbegründet. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vom Verwaltungsgericht zu Unrecht abgelehnt worden ist. [...]

3. Aus dem Umstand, dass die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe gem. § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat, ergibt sich kein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a AufenthG (s.u. a) und b)). Aus der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer folgt auch nicht, dass das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der im Bescheid vom 05.02.2019 verfügten Verlängerung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (s.u. d)) und der Abschiebungsandrohung (s.u. c)) das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.

a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Berücksichtigung von Aussetzungsentscheidungen der Strafvollstreckungskammern bei der Gefahrenprognose im Rahmen von Ausweisungen (vgl. Beschl. v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, juris Rn. 21 - 24), auf die sich die Beschwerde beruft, ist vorliegend nicht unmittelbar einschlägig. Gegenstand des Rechtsstreites ist nicht die Ausweisung. Diese wurde bereits im Jahr 2012 verfügt und ist seit der Beendigung des gegen sie gerichteten Klageverfahrens durch einen Vergleich im Jahr 2014 bestandskräftig.

b) Ungeachtet der Bestandskraft der Ausweisung ist jedoch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Abschiebung zu prüfen, ob Art. 8 EMRK einer Aufenthaltsbeendigung entgegen steht und damit Duldungsgründe nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (oder sogar die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG) vorliegen. Dies kommt v.a. in Betracht, wenn – wie hier – zwischen dem Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung und der Abschiebung mehrere Jahre liegen. Denn für einen sich längere Zeit rechtswidrig im Gaststaat aufhaltenden Ausländer (wie den bestandskräftig ausgewiesenen Antragsteller) kann aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ein Anspruch auf eine Legalisierung bzw. Duldung seines Aufenthalts folgen (vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 03.10.2014 – 12738/10, Jeunesse ./. NL, Ziff. 105, hudoc.echr.coe.int/eng. Allerdings besteht ein solcher Anspruch nicht schon allein deshalb, weil von dem Ausländer keine Straftaten drohen.

Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 EMRK ist ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Hierfür kommt es einerseits auf die Integration in Deutschland, andererseits auf die Möglichkeit zur Integration im Staat der Staatsangehörigkeit an (BVerfG, Beschl. v. 29.01.2020 – 2 BvR 690/19, juris Rn. 20). Kriterien sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, der Stand der gesellschaftlichen und sozialen Integration (Sprachkenntnisse, Schule/Beruf), das strafrechtlich relevante Verhalten sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betreffenden. Darüber hinaus ist in die Prüfung einzubeziehen, wie die Schwierigkeiten zu bewerten sind, auf die dieser bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat treffen würde. Auch der aufenthaltsrechtliche Status, den der Ausländer bislang besessen hat, kann ein Kriterium sein, das für die Ermittlung des Ausmaßes der Verwurzelung von Relevanz ist (st. Rspr. des Senats, vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 17.01.2019 – 1 B 333/18, juris Rn. 21 mwN). Es bedarf mithin einer Gesamtabwägung, bei der eventuell begangene oder drohende Straftaten nur ein Aspekt sind.

Bei Anwendung dieses Maßstabs ergibt sich aus Art. 8 EMRK kein Anspruch des Antragstellers auf ein weiteres Verbleiben in Deutschland. [...]

cc) Der Antragsteller unterhält verwandtschaftliche Beziehungen in Deutschland. Zumindest seine Mutter, seine Geschwister und ein Neffe wohnen hier. Aufgrund der Ausführungen im Urteil des Amtsgerichts Bremen vom 15.02.2012 und im Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bremen vom 07.05.2020 ist von einer engen Bindung auszugehen. Jedoch ist der Antragsteller mit 51 Jahren in einem Alter, in dem viele Menschen in großer Entfernung zu Eltern, Geschwistern und Neffen wohnen. Einen Ehegatten oder Kinder hat er nicht.

dd) Im Hinblick auf Arbeit und Ausbildung ist keine gefestigte Integration in Deutschland festzustellen. Der Antragsteller hat zwar 1988 einen (Haupt-)Schulabschluss erworben; der Senat geht daher davon aus, dass er die deutsche Sprache beherrscht. Nach der Schule hat er aber die Ausbildung abgebrochen. In den folgenden ca. 30 Jahren hat er keinen Ausbildungsabschluss erworben und nach den von der Beschwerde nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts nur sporadisch gearbeitet. Auch wenn er nun seit ca. 6 Monaten auf 450-Euro-Basis einer Aushilfstätigkeit nachgeht, kann von einer nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt nicht gesprochen werden.

ee) Eine Reintegration in der Türkei erscheint möglich. Der Antragsteller hat seine ersten elf Lebensjahre überwiegend in der Türkei verbracht. Nach eigenen Angaben hat er dort fünf Jahre die Schule besucht (vgl. Bl. 1230 d. BA). Auch nach der Übersiedlung nach Deutschland ist der Kontakt dorthin nicht abgebrochen. [...]

ff) Der Senat lässt offen, ob die Frage einer fortbestehenden Gefährlichkeit des Antragstellers angesichts der vorstehenden Ausführungen überhaupt noch entscheidungserheblich für die Feststellung der (fehlenden) "Verwurzelung" ist. Denn trotz der Aussetzung des Strafrests durch die Strafvollstreckungskammer nach § 57 Abs. 1 StGB spricht viel dafür, dass der Antragsteller auch zukünftig wieder straffällig werden wird. [...]

c) Aus der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung folgt weder die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung vom 05.02.2019 noch entfällt deshalb das überwiegende öffentliche Interesse an ihrem Sofortvollzug. [...]

Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Aufgrund der seit fast sechs Jahren bestandskräftigen Ausweisung und der Nichterfüllung der Verpflichtungen, die er in dem damaligen gerichtlichen Vergleich als Voraussetzung für einen weiteren Aufenthalt übernommen hat, hat der Antragsteller das Bundesgebiet grundsätzlich zu verlassen. Ein überwiegendes Interesse daran, den Ausgang des Klageverfahrens gegen die offensichtlich rechtmäßige isolierte Abschiebungsandrohung im Inland abzuwarten, lässt sich nicht feststellen (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 25.07.2019 – 2 B 69/19, juris Rn. 47). Zudem hat der Antragsteller seinen Lebensunterhalt überwiegend nicht durch eigene Erwerbstätigkeit gesichert; er geht auch derzeit nur einer Aushilfstätigkeit auf 450-Euro-Basis nach. Auf die Gefahr weiterer Straftaten kommt es daher eigentlich nicht an. Jedoch besteht auch unter diesem Aspekt selbständig tragend ein überwiegendes Vollzugsinteresse. Die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung durch die Strafvollstreckungskammer steht unter den Umständen des vorliegenden Einzelfalls nicht der Prognose entgegen, dass weitere Straftaten des Antragstellers ernsthaft drohen (vgl. oben Ziff. 3 b) ff)). [...]

4. Da der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig und sein weiterer Aufenthalt in Deutschland nicht durch Art. 8 EMRK geboten ist (s.o. Ziff. 3. b und c), führen weder ein Therapieplatz noch die Teilnahme an einem Substitutionsprogramm zu einem Abschiebungshindernis oder zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses hinsichtlich der Abschiebungsandrohung. Anders wäre es möglicherweise, wenn es aufgrund besonderer Umstände konkrete Anhaltspunkte dafür gäbe, dass ein Therapieerfolg besonders wahrscheinlich ist. Hierfür spricht jedoch nichts. Der Antragsteller hat in der Vergangenheit schon mehrere Therapien unternommen, die nicht von nachhaltigem Erfolg waren. [...]