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LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Urteil vom 26.06.2020 - L 7 AL 60/19 - asyl.net: M28990
https://www.asyl.net/rsdb/M28990
Leitsatz:

Ausbildungsbeihilfe nur bei (ggf. individueller) positiver Bleibeperspektive:

"1. Beim Vorliegen einer Aufenthaltsgestattung zur Durchführung eines Asylverfahrens und einer zum Zeitpunkt der ersten BAB-Antragstellung negativen Prognose zur Erwartung eines dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland kommen Leistungen der BAB an Ausländer nicht in Betracht.

2. Maßgeblich für die Prognose ist zunächst, ob sich eine positive Bleibeperspektive schon aus der für das Herkunftsland des Antragstellers zu ermittelnden Gesamtschutzquote ergibt. Ist dies nicht der Fall, ist zu prüfen, ob eine Einzelfallbetrachtung ein anderes Ergebnis rechtfertigt.

3. Allein die ungewisse Erwartung, dass nach Abschluss des Asylverfahrens eine Duldung bis zur Beendigung der Berufsausbildung nach § 60a AufenthG und daran anschließend für eine Beschäftigung für weitere zwei Jahre eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG erteilt werden könnte, führt nicht zu einer positiven Prognose"

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltsgestattung, Bleibeperspektive, Asylverfahren, Berufsausbildung, Ausbildungsduldung, Afghanistan, Ablehnungsbescheid, Ausbildungsförderung, Berufsausbildungsbeihilfe, Sozialrecht,
Normen: SGB III § 56, SGB III § 59 Abs. 1 S. 1, SGB III a.F., AsylG § 55, SGB III § 132 Abs. 1 Nr. 2 a.F.
Auszüge:

[...]

Ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt ist zu erwarten, wenn eine positive Bleibeperspektive für den Kläger festgestellt werden könnte. Eine dem entgegenstehende Vermutung im Sinne von § 132 Abs. 1 Satz 2 SGB III liegt bei dem Kläger nicht vor, da es sich bei Afghanistan nicht um einen sicheren Herkunftsstaat im Sinne von § 29a AsylG handelt. Allerdings muss für eine positive Bleibeperspektive nach einer aus einer ex ante-Sicht und vorliegend gem. § 448 SGB III letzter Satz auf den Zeitpunkt der ersten Antragstellung abzustellenden Prognose eine überwiegend wahrscheinliche Aussicht darauf bestehen, dass dem Kläger ein Status als Flüchtling i.S.v. § 3 AsylG oder ein subsidiärer Schutz i.S.v. § 4 AsylG zuerkannt wird (vgl. dazu auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 8. April 2019 – L 10 AL 23/19 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. November 2018 - L 11 AL 140/18 B ER; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 27. August 2018 - L 2 AL 29/18 B ER - in juris - Böttiger in Böttiger/Körtek/Schaumberg, SGB III, 3. Auflage 2019, § 132 Rn. 5). Die Maßgeblichkeit der Aussicht darauf, dass die Voraussetzungen der §§ 3 und 4 AsylG erfüllt sind, ergibt sich insbesondere auch aus der in § 132 Abs. 1 Satz 2 SGB III an die Herkunft aus einem sicheren Herkunftsstaat anknüpfende Vermutung, dass in diesen Fällen ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt nicht erwartet werden kann. Nach § 29a AsylG kann bei Herkunft aus einem solchen Staat ein Asylantrag nur dann erfolgversprechend sein, wenn die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel die Annahme begründen, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht.

Maßgeblich für die Prognose für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Zuerkennung eines subsidiären Schutzes ist nach Auffassung des Senats zunächst, ob sich eine positive Bleibeperspektive aus der für das Herkunftsland des Klägers zu ermittelnden Gesamtschutzquote ergibt. Nach der Gesetzesbegründung zum insoweit wortgleichen § 44 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG soll dies jedenfalls dann der Fall sein, wenn bei Asylbewerbern aus dem entsprechenden Herkunftsland eine Gesamtschutzquote von mehr als 50 % besteht (vgl. dazu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. November 2018 - L 11 AL 140/18 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. Mai 2017 - L 14 AL 52/17 B ER; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 27. August 2018 - L 2 AL 29/18 B ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. April 2018 - L 9 AL 227/17 - alle in juris; Buser in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand Mai 2018, § 132 Rn. 30 mwN; kritisch: Schmidt-De Caluwe in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 6. Auflage 2017, § 132 Rn. 10; die Übertragbarkeit der Grundlagen des § 44 Abs. 4 AufenthG auf die BAB offen gelassen: BVerfG, Beschluss vom 28. September 2017 - 1 BvR 1510/17 - juris). Die Gesamtschutzquote ist dabei zunächst ein objektives Kriterium, das es im Rahmen der Massenverwaltung ermöglicht, hinreichend schnell und zuverlässig eine Prognose für die Bleibeperspektive von Ausländern, deren Aufenthalt zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet ist, und bei denen dieses noch nicht abgeschlossen ist, vorzunehmen. Auch die bezüglich der sicheren Herkunftsstaaten aufgestellte Vermutung einer fehlenden Bleibeperspektive (§ 132 Abs. 1 Satz 2 SGB III) bestätigt diesen Ansatz. Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass in 2018 für Afghanistan die Gesamtschutzquote durchgehend unter 40 % gelegen hat. Dies hat sich auch im Berichtsjahr 2019 nicht geändert (38,2 % im Zeitraum Januar – November 2019; vgl. Aktuelle Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Ausgabe: November 2019, Seite 3, unter www.bamf.de). Folglich kann eine positive Bleibeperspektive über eine rein generelle Betrachtung der Zahlen zu der Gesamtschutzquote nicht begründet werden.

Auch bei einer konkreten Würdigung des Einzelfalles ergibt sich nichts anderes. Bereits zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen BAB-Antragstellung hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag des Klägers nach sachlicher Prüfung abgelehnt (vgl. Bescheid vom 3. Februar 2017). Die hiergegen gerichtete Klage ist zwischenzeitlich durch Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 20. September 2018 abgewiesen worden, so dass sich auch hieraus keine günstige Bleibeperspektive ableiten lässt. Mit dem ablehnenden Bescheid ist vielmehr bereits eine konkrete, individuelle und belastbare Beurteilung des Asylbegehrens des Klägers vorgenommen worden. Nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 24. November 2017 - 19 C 17.1903 - juris) bietet dies im Rahmen der Feststellung eines Anspruchs auf Teilnahme an einem Integrationskurs nach § 44 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, bei dem es ebenfalls wortlautgleich darauf ankommt, ob ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist, eine substantielle Grundlage für die Prognose der Bleibeperspektive auch dann, wenn die Entscheidung des BAMF angefochten wird, da - jedenfalls im Rahmen des § 44 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG - eine inhaltliche Prüfung der Erfolgsaussichten des Asylverfahrens nicht zu erfolgen hat. Ob diese Auffassung zu § 44 AufenthG auch auf den Bereich der BAB nach den §§ 56 ff. SGB III übertragen werden kann (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 28. September 2017 - 1 BvR 1510/17 - juris, das die Übertragbarkeit von Begründungen der Rechtsprechung zu § 44 AufenthG auf die Vorschriften zur BAB offen gelassen hat), braucht im Hinblick auf die geringe Gesamtschutzquote nicht entschieden zu werden (die negative Entscheidung des BAMF als unerheblich für die Bleibeperspektive im Rahmen des § 132 SGB III ansehend: SG Karlsruhe, Urteil vom 24. Januar 2018 - S 2 AL 3795/17 - juris). Mit der negativen Entscheidung des BAMF, bestätigt zwischenzeitlich durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel, hat sich jedenfalls bei einer Einzelfallbetrachtung die objektive Bleibeperspektive des Klägers nicht verbessert.

Eine gute Bleibeperspektive ergibt sich zur Überzeugung des Senats letztlich auch nicht daraus, dass der Kläger bei rechtskräftiger Ablehnung oder sogar Rücknahme seines Asylantrages eine Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG beantragen könnte. Denn zum einen vermittelt eine Duldung keinen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne von § 132 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a.F. Es handelt sich lediglich um die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, wobei der Aufenthalt an sich unrechtmäßig bleibt und die Pflicht zur unverzüglichen Ausreise fortbesteht (vgl. hierzu auch Bienert, info also 2018, 104, 108). Zum anderen ist die Anspruchsberechtigung auf Ausbildungsbeihilfe bei Duldung gesondert in § 59 Abs. 2 SGB III geregelt. Würde die bloße Aussicht auf eine Ausbildungsduldung und ggf. eine anschließende Aufenthaltserlaubnis nach § 18a Abs. 1a AufenthG tatsächlich eine gute Bleibeperspektive im Sinne von § 132 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a.F. vermitteln, wäre diese dort geregelte Voraussetzung schlicht überflüssig, da jeder Ausländer diese mit der Aufnahme einer Ausbildung automatisch erfüllen würde. [...]