VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 29.07.2020 - 1 K 2836/18.KS.A - asyl.net: M28987
https://www.asyl.net/rsdb/M28987
Leitsatz:

Asylanerkennung und Flüchtlingsschutz für Zeugin Jehovas aus Russland:

"Zeugen Jehovas droht nach der aktuellen Erkenntnislage in der Russischen Föderation jedenfalls dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, wenn sie ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben wollen und dies als unverzichtbare Elemente ihrer religiösen Identität verstehen oder wenn sie eine exponierte Stellung innerhalb der Gemeinschaft haben."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, religiöse Verfolgung, Religionsgemeinschaft, Religionszugehörigkeit, religiöses Existenzminimum,
Normen: AsylG § 3, GG Art. 16a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Oktober 2018 (Az. …..) erweist sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG und die Anerkennung als Asylberechtigte gem. Art. 16a GG. [...]

2) Die Klägerin hält sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Religion außerhalb ihres Herkunftslandes auf, § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

b) Vor diesem Hintergrund droht den Klägern im Fall ihrer Rückkehr, wegen ihrer Religionsausübung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit strafrechtlichen Sanktionen seitens des russischen Staates ausgesetzt zu sein.

aa) Zeugen Jehovas droht nach der aktuellen Erkenntnislage in der Russischen Föderation jedenfalls dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, wenn sie ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben wollen und dies als unverzichtbare Elemente ihrer religiösen Identität verstehen oder wenn sie eine exponierte Stellung innerhalb der Gemeinschaft haben (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – Au 2 K 19.30587, juris Rn. 40; wohl auch VG Schwerin, Urteil vom 12. Dezember 2019 – 15 A 1847/17 As SN, juris; VG Schwerin, Urteil vom 23. Januar 2020 – 15 A 1428/18 SN, juris Rn. 35; VG Sigmaringen, Urteil vom 17. Januar 2019 – A 4 K 6178/16, juris Rn. 33–34; VG Berlin, Urteil vom 5. Juni 2019 – 33 K 771.17A, juris Rn. 30–31; VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 17 A 27777/18, juris; VG Göttingen, Urteil vom 5. Oktober 2017 – 2 A 197/14; jedenfalls für Mitglieder in exponierter Stellung VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 – 1 K 810/19.A, juris Rn. 25; VG Trier, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 K 5531/18.TR, juris Rn. 52, unter Aufgabe der bisherigen, auf Mitglieder in exponierter Stellung beschränkten Rechtsprechung; VG Kassel, Urteil vom 19. Februar 2020 – 1 K 2727/18.KS.A, n.v.).

Angehörige der Zeugen Jehovas, die sich auch nur niederschwellig an den Aktivitäten ihrer Glaubensgemeinschaft beteiligen, können strafrechtlich belangt werden.

So führt das Auswärtige Amt im aktuellen Lagebericht vom 13. Februar 2019 (S. 7) aus: "Am 20. April 2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden." Rechtsgrundlage für eine strafrechtliche Verurteilung ist dabei Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation, Zeugen Jehovas vom 2. März 2018, S 2 f., dort der Wortlaut im Volltext). Unter der demnach strafbaren "Teilnahme an der Tätigkeit einer religiösen Gesellschaft" (Art. 282.2 Z. 2) lässt sich auch eine bloße gemeinschaftliche Religionsausübung ohne weiteres subsumieren. Gleiches gilt für eine werbende, missionarische Tätigkeit im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal des "Anwerbens" (Art. 282.2 Z. 1.1.). Russische Gerichte subsumieren unter die Teilnahme auch religiöse Aktivitäten, die im privaten Bereich stattfinden (z.B. häusliche Gottesdienste, Bibellesungen). Es gab nach Einstufung der Zeugen Jehovas als "extremistische Organisation" Strafverfahren, bei denen Anhänger der Zeugen Jehovas aufgrund privat gehaltener Veranstaltungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden (AA an Bay. VGH vom 6. April 2020 – 508.516.80/54040).

Diese Strafvorschriften werden tatsächlich angewendet. Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich  Berichte über Ermittlungsverfahren gegen Zeugen Jehovas wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen Art. 282.2 Strafgesetzbuch und Verurteilungen auf dessen Grundlage (vgl. etwa BFA, a.a.O., S. 3; USDOS, Human Rights Report 2018, S. 15). Besondere Beachtung fand insofern die Verurteilung eines dänischen Staatsangehörigen zu sechs Jahren Lagerhaft im Februar 2019 (vgl. UN News, UN rights chief 'deeply concerned’ over Jehovah’s Witness sentencing in Russia, abrufbar unter news.un.org/en/story/2019/02/1032151 [03.03.2020]). Im Laufe des Jahres 2019 wurden 17 weitere Zeugen Jehovas verurteilt, sieben von ihnen zu Freiheitsstrafen (Anmesty International, Amnesty Report Russland 2019 vom 16. April 2020). [...]

Welchen Anlass die Betroffenen zur Verhaftung gegeben haben, ist aus den Erkenntnismitteln nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkenntlich, ob es sich um "exponierte" Mitglieder der Gemeinschaft handelt. Das Auswärtige Amt geht davon aus, die russischen Behörden gingen gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor, sofern diese öffentlich erfolge (ohne weitere Begründung, vgl. AA, a.a.O., S. 7). Differenzierungen etwa nach besonderen Tätigkeiten für die Gemeinschaft sind jedenfalls nicht ersichtlich (vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – Au 2 K 19.30587, juris Rn. 51).

Die Erkenntnismittel enthalten dagegen Indizien, die auf die strafrechtliche Verfolgung der einfachen Religionsausübung in Russland deuten. Ausgangspunkt ist dabei die Aussage des Obersten Gerichts der Russischen Föderation im Verbotsverfahren, das "alle Angehörigen der Religionsgemeinschaft potentielle Täter" seien, weil ihre Aktivitäten die Stabilität des Schutzes vor Menschenrechtsverletzungen gefährdeten (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation, Verbot und Strafverfolgung von Zeugen Jehovas vom 26.9.2017, zit. nach VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – Au 2 K 19.30587, juris Rn. 52). Soweit den Zeugen Jehovas mittlerweile auch die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen unmöglich gemacht (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Augsburg vom 27.12.2017, zit. nach VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – Au 2 K 19.30587, juris Rn. 52; United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Annual Report 2019, April 2019, S. 83) und mit einer Entscheidung des Plenums des Obersten Gerichts vom November 2017 jedenfalls der juristisch-theoretische Unterbau geschaffen wurde, um Zeugen Jehovas die elterliche Sorge zu entziehen, wenn sie ihre Kinder mit der Organisation der Zeugen Jehovas in Kontakt bringen (AA, a.a.O., S. 7), spricht auch dies dafür, dass es den Organen der Russischen Föderation nicht nur um die Zerschlagung der Organisation der Zeugen Jehovas als solcher, sondern auch um die Sanktionierung von individuellen glaubensgeleiteten Verhaltensweisen geht. Diese Hinweise verdichten sich. So gibt es Erkenntnisse, dass die Zwangsmaßnahmen ausschließlich aufgrund von Handlungen, die im Kontext der Religionsausübung der Betroffenen standen, stattfanden (VG Trier, Urteil vom 15. Mai 2020 – 1 K 5531/18.TR, juris Rn. 43 m.w.N.). [...]

Darauf, dass ein nicht unerheblicher Verfolgungsdruck hinsichtlich zentraler Elemente der (einfachen) Glaubensausübung wie das Missionieren ("Predigen") oder dem Besuch von Versammlungen besteht, deuten Erkenntnisse des VG Augsburg hin (VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – Au 2 K 19.30587, juris Rn. 56). Dies deckt sich mit der Einschätzung, dass sich Gläubige bei der Ausübung ihrer Religion nunmehr in die Verborgenheit zurückziehen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31. August 2018, S. 62).

Die Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit entzieht sich einer rein quantitativen Ermittlung. Zwar lässt sich ausgehend von einer Mitgliederzahl von rund 175.000 und 70 Ermittlungsverfahren eine Verfolgungswahrscheinlichkeit von 0,04 % (oder 1:2.500) errechnen. Dies spiegelt allerdings nach Auffassung des Gerichts nicht die tatsächliche Wahrscheinlichkeit für einen geflohenen Zeugen Jehovas im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation wieder. [...]

Angesichts dessen kann die Gefahr der Strafverfolgung von Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation nur anhand der von der Rechtsprechung entwickelten "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung. Es kommt – wie dargestellt – darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12, juris Rn. 32).

Hier trifft die Strafverfolgung seitens russischer Behörden Zeugen Jehovas in Kernbereichen ihres religiösen Selbstverständnisses. das Verwaltungsgericht Trier führt hierzu überzeugend aus: "Versammlungen der Gemeinde zum gemeinsamen Gebet und Gesang, dem Studium der Bibel, Gesprächen über den Glauben und wechselseitigem Beistand in schwierigen Lebenslagen stellen nach der weltweit einheitlichen Glaubenslehre der Zeugen Jehovas einen wesentlichen Bestandteil des 'Dienstes für Gott' dar. Die religiöse Pflicht zur Teilnahme an der Zusammenkunft wird hierbei unmittelbar aus der Bibel abgeleitet (Kol 3, 16; Hebr 10, 23-25, vgl. www.jw.org/de/jehovas-zeugen/faq-oft-gefragt/was-glauben-zeugen-jehovas/). Auch die Durchführung von  laubenskongressen und die Teilnahme hieran ist eine unmittelbar aus der Bibel abgeleitete Glaubenspflicht (Dtn 16, 16, vgl. www.jw.org/de/bibliothek/buecher/wille-jehovas/jehovas-zeugenkongresse/. Als weiteres wesentliches Element des 'Dienstes für Gott' sieht die Glaubenslehre die Verbreitung der 'guten Botschaft vom Königreich' im Rahmen des Predigtwerks (Mt 24, 14) vor, die 'in aller Öffentlichkeit und von Haus zu Haus' stattfinden soll (Apg 5, 42; 20, 20, vgl. hierzu www.jw.org/de/jehovas-zeugen/ faq-oft-gefragt/von-haus-zu-haus/)." (VG Trier, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 K 5531/18.TR, juris Rn. 54).

Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass in der Russischen Föderation erstens jedem Zeugen Jehovas, der seiner Glaubensüberzeugung gemäß öffentlich predigen und sich in der Gemeinschaft versammeln möchte, Strafverfolgung droht. Es geht zweitens davon aus, dass Zeugen Jehovas, wenn sie individuell glaubhaft machen, dass für sie die Religionsausübung über den rein privaten Bereich der individuellen Bibellese und des privaten Gebets allein oder im Familienkreis hinaus zu den ihre religiöse Identität bestimmenden Faktoren gehört, nicht darauf verwiesen werden können, sich in den privaten Bereich zurückzuziehen. Es sieht aber in Übereinstimmung mit der wohl herrschenden Rechtsprechung drittens nicht allein in der Mitgliedschaft zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas einen Anknüpfungspunkt für Verfolgung; die Maßstäbe für eine Gruppenverfolgung sind nicht erfüllt.

bb) Die Klägerin hat in der Russischen Föderation ihren Glauben öffentlich in Gemeinschaft ausgelebt. Auch derzeit übt sie ihre Religion in einer Art und Weise aus, die im Herkunftsland zu Verfolgung führt. [...]