VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 14.10.2020 - 4 A 322/17 - asyl.net: M28981
https://www.asyl.net/rsdb/M28981
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Guinea wegen schlechter humanitärer Lage:

1. Die humanitäre Lage in Guinea ist prekär. Zudem herrschen politische Unruhen, Korruption und Straflosigkeit bei schwerer Kriminalität. Die Lage hat sich durch die Ausschreitungen im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl im Oktober 2020 weiter verschärft.

2. Für einen jungen und gesunden Mann, der bereits als Minderjähriger aus Guinea ausgereist ist und über kein familiäres Unterstützungsnetzwerk im Land verfügt, ist ein Abschiebungsverbot festzustellen, da ein Zugang zu Arbeit, Unterkunft und Gesundheitsversorgung nicht sichergestellt ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Existenzminimum, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

III. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. [...]

Im Fall der Abschiebung des Klägers nach Guinea liegt ein derartiger Ausnahmefall vor.

Trotz großer wirtschaftlicher Ressourcen (u.a. größte Bauxitvorkommen der Welt) gehört Guinea zu den ärmsten Ländern der Welt. Knapp 70 % der Bevölkerung muss von weniger als 2 US-Dollar pro Tag leben. Aufgrund der - durch die Ebola-Epidemie noch verstärkten - anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation Guineas lebt ein Großteil der Bevölkerung weiterhin unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen. Gewinne aus dem enormen Reichtum an Rohstoffen (u.a. Bauxit, Gold, Diamanten, Eisenerz) kamen bislang nur zu einem Bruchteil der Infrastruktur des Landes sowie der Bevölkerung zugute. Die Möglichkeiten einer verstärkten wirtschaftlichen Dynamik sind angesichts der guten Voraussetzungen aufgrund der mineralischen Ressourcen, guten Böden mit großem landwirtschaftlichem Potenzial und des Wasserreichtums gegeben. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, Maßnahmen zum Ausbau der Basisinfrastruktur und zur guten Regierungsführung umzusetzen. Derzeit reicht das Wachstum nicht aus, um die im Land verbreitete Armut (ca. 50% der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsschwelle) zurückzudrängen (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea vom 5. Juli 2019 (Stand: Mai 2019), Seite 13; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Guinea, 8. März 2017, Seite 17).

Daneben sind politische Unruhen, Streiks und Korruption an der Tagesordnung. Sicherheitskräfte können nach unberechtigten Übergriffen mit Straflosigkeit oder allenfalls mit internen Disziplinarverfahren rechnen (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea vom 5. Juli 2019 (Stand: Mai 2019), Seite 8). Die verwaltungskonforme Kontrolle über die Polizei ist sehr ineffektiv und es gibt zahlreiche Vorwürfe gegenüber der Polizei über unprofessionelles Verhalten, Diebstahl und Erpressung (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Guinea, 8. März 2017, Seite 7 und 8). Bewaffnete Raubüberfälle und Diebstähle sind häufig; bandenmäßig Gewaltkriminalität ist zunehmend verbreitet. Nachts werden häufig Überfälle auf Passanten, Wohnhäuser und Geschäfte verübt, wobei die Anzahl der gemeldeten Raubmorde, teilweise durch bewaffnete Täter in Uniform zugenommen hat. Auf Grund der am 18. Oktober 2020 durchgeführten Präsidentschaftswahlen kommt es auf Grund von Unstimmigkeiten bezüglich des Wahlergebnisses wieder zu Ausschreitungen (Deutsche Welle: Ausschreitungen nach Präsidentenwahl in Guinea, www.dw.com/de/ausschreitungen-nach-pr%C3%A4sidentenwahl-in-guinea/a-55332805), welche bisher zu neun Tote geführt haben (taz: Tote in Guinea und Elfenbeinküste, taz.de/Wahlunruhen-in-Westafrika/!5722971/).

Unter Berücksichtigung dieser Verhältnisse, die insbesondere auch für die Hauptstadt Conakry gelten - wo die Abschiebung endet, da die Hauptstadt mit einem Linienflug direkt angeflogen werden kann (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea vom 5. Juli 2019 (Stand: Mai 2019), Seite 14) - und in Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger über keinerlei familiären Anschluss in Guinea mehr verfügt, ist von einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot auszugehen.

Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft schilderte, lebt seine Mutter und seine Schwester nicht mehr in ... bzw. Guinea, sondern beide sind nach Mali ausgereist. Der Vater des Klägers ist verstorben und die Großmutter väterlicherseits ist dem Kläger und seiner Familie feindselig gegenüber eingestellt. Letzteres hat der Kläger glaubhaft geschildert, indem er ausführlich und detailreich schilderte, wie sich seine Großmutter väterlicherseits nach dem Tod seines Vaters von seiner Mutter und Familie abgewendet hat und die Äußerungen der Großmutter dazu führten, dass die Familie durch die Dorfbewohner weiter verfolgt wurde. Aus diesem Grund ist nicht davon auszugehen, dass die Großmutter väterlicherseits den Kläger bei seiner Rückkehr entsprechend unterstützen wird.

Das Gericht geht daher davon aus, dass der Kläger bei seiner Rückkehr keinerlei Anknüpfungspunkte in Guinea in familiärer Hinsicht haben wird. Der Kläger hat seine familiäre Situation authentisch dargelegt, das Gericht hat keinen Anlass daran zu zweifeln. In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits minderjährig, im Alter von 15 Jahren aus Guinea ausgereist ist. Es ist nicht davon auszugehen, dass er in diesem Alter bereits dauerhafte außerfamiliären Beziehungen knüpfen konnte, welche ihm den Start nach seiner Rückkehr ermöglichen würden. Zwar handelt es sich bei dem Kläger um einen jungen und gesunden Mann, der in Guinea bis zur 8. Klasse die Schule besucht hat. Dies rechtfertigt jedoch im konkreten Einzelfall keine andere Beurteilung. Sozialhilfe oder sozialen Wohnraum gibt es in Guinea nicht. Die Zugangsmöglichkeit des Klägers zu Arbeit, Unterkunft sowie einer Grundversorgung ist daher nicht sichergestellt.

Entsprechendes gilt auch für andere Landesteile Guineas, da bei lebensnaher Betrachtung der Kläger dort ebenfalls keine Umstände vorfinden wird, die ihn vor einer Verelendung schützen könnten. [...]