OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 16.07.2020 - 13 LC 41/19 (Asylmagazin 12/2020, S. 440 f.) - asyl.net: M28973
https://www.asyl.net/rsdb/M28973
Leitsatz:

Einbürgerung trotz Sozialleistungsbezug wegen Erwerbslosigkeit aus gesundheitlichen Gründen:

1. Nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StAG steht die fehlende Lebensunterhaltssicherung einer Einbürgerung dann nicht entgegen, wenn die Person die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht zu vertreten hat.

2. Die Darlegungs- und Beweislast für das Nichtvertretenmüssen trägt die betroffene Person. An den Nachweis sind allerdings keine überspannten Anforderungen zu stellen, weil die Person bei einer nachträglichen einbürgerungsrechtlichen Neubewertung der zurückliegende Jahre in Beweisnot geraten kann, da sie keinen Anlass hatte, die Situation systematisch zu erfassen und beweissicher zu dokumentieren.

3. Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht zu vertreten, da er nunmehr das Rentenalter erreicht hat und vorherige Phasen der Erwerbslosigkeit im Wesentlichen gesundheitlichen Gründen geschuldet waren. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einbürgerung, Sicherung des Lebensunterhalts, Vertretenmüssen, Krankheit, psychische Erkrankung, Rentenversicherungspflicht, geringfügige Beschäftigung, Arbeitslosigkeit,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

17 Das Verwaltungsgericht Hannover hat der Klage mit Urteil vom 18. Dezember 2018 stattgegeben. Die Voraussetzungen des allein streitigen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 StAG lägen vor, der Kläger habe die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII nicht zu vertreten. Der Leistungsbezug beruhe wesentlich auf einer schwergradigen depressiven Erkrankung. Auch die Betrachtung des Zeitraums der letzten acht Jahre bis zur mündlichen Verhandlung ergebe nicht, dass der Kläger den aktuellen Leistungsbezug zu vertreten habe. Der Kläger hätte in diesem Zeitraum allenfalls geringe Anwartschaften erwerben können, bis Ende 2012 seien die für den Kläger am ehesten erreichbaren geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zudem rentenversicherungsfrei gewesen. Selbständig tragend sei zudem, dass der Kläger aufgrund der vorgelegten Atteste den gesamten Zeitraum als erwerbsunfähig einzustufen sei. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. [...]

26 Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband durch Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).

27 Der Kläger kann die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband gemäß § 10 StAG beanspruchen.

28 Der Kläger erfüllt die allein im Streit stehende Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, wonach der Ausländer für eine Einbürgerung den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII bestreiten können muss oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten haben darf.

29 Die hier gegebene Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII hat der Kläger nicht zu vertreten. [...]

33 Die Darlegungs- und Beweislast für das Nichtvertretenmüssen trägt angesichts der gesetzlichen Konstruktion von Regel und Ausnahme - und weil es sich typischerweise um Umstände handelt, die seiner persönlichen Sphäre entstammen - der Einbürgerungsbewerber (vgl. Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 16; Urt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15 -, juris Rn. 34; v. 13.11.2013 - 13 LB 99/12 -, juris Rn. 35; GK-StAR, § 10 StAG Rn. 254, Stand: November 2015, m.w.N.). An den dem Einbürgerungsbewerber obliegenden Nachweis, dass er Zeiten der Nichtbeschäftigung nicht zu vertreten hat, sind allerdings keine überspannten Anforderungen zu stellen, weil der Einbürgerungsbewerber bei einer nachträglichen einbürgerungsrechtlichen Neubewertung seiner zurückliegenden Bemühungen um Arbeit in Beweisnot geraten kann, da er keinen Anlass hatte, entsprechende Bemühungen systematisch zu erfassen und beweissicher zu dokumentieren (vgl. BVerwG, Urt. V. 19.2.2009 - 5 C 22.08 -, juris Rn. 20; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.7.2017 - 19 A 2368/15 -, juris Rn. 9; GK-StAR, § 10 StAG Rn. 258, Stand: November 2015). Eine umfassende Dokumentation etwa der Arbeitsbemühungen ist dem Einbürgerungsbewerber im Einbürgerungsverfahren regelmäßig dann nicht abzuverlangen, wenn diese nach §§ 2 Abs. 1, 15 Abs. 1 SGB II vom Jobcenter verlangt und als sozialrechtlich hinreichend akzeptiert worden war (vgl. GK-StAR, § 10 StAG Rn. 255, Stand: November 2015).

34 Hieran gemessen hat der Kläger die derzeit gegebene Unfähigkeit, seinen Lebensunterhalt vollständig ohne die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII zu decken, nicht zu vertreten. [...]

36 Gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII darf Leistungsberechtigten eine Tätigkeit nicht zugemutet werden, wenn sie ein der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechendes Lebensalter erreicht oder überschritten haben. Da dem Kläger als Empfänger von Leistungen nach dem SGB XII nach dieser Vorschrift eine Tätigkeit nicht zugemutet werden darf, hat er es auch normativ nicht zu vertreten, keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen, um den aktuellen Leistungsbezug zu verringern oder ganz zu vermeiden. [...]

39 a) Dies gilt zunächst im Hinblick auf die gesundheitsbedingte weitgehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers. Zur Darlegung einer Arbeitsunfähigkeit sind die obigen Ausführungen zu Arbeitsbemühungen entsprechend heranzuziehen. Wenn dem Jobcenter ärztliche Atteste und Gutachten vorgelegt und von ihm sodann als sozialrechtlich hinreichend akzeptiert werden, kann von dem Kläger nunmehr nicht verlangt werden, darüber hinaus weitere Gutachten einzuholen oder sonst auf zusätzliche Weise zu dokumentieren, dass er arbeitsunfähig gewesen ist und seine Nichtbeschäftigung daher nicht zu vertreten hatte. Eine periodische Überprüfung der weiteren Gültigkeit von Gutachten allein auf Initiative des Einbürgerungsbewerbers kann jedenfalls dann nicht verlangt werden, wenn bereits eingeholten Gutachten Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass eine Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich von Dauer ist. Das Gutachten vom 12. Februar 2013 erfüllt diese Anforderungen, zieht es doch eine (dauerhafte) Erwerbsminderungsrente in Betracht. Es basiert auf Gesprächen aus Mitte 2012, d.h. etwa acht Jahre vor der hier getroffenen Entscheidung, und erstreckt sich somit über den gesamten in den Blick zu nehmenden Zeitraum. Das Jobcenter hat in dem Zeitraum nicht nur keine Sanktionen verhängt, es hat auch sonst in keiner Art und Weise erkennen lassen, dass der Kläger Obliegenheitspflichten verletzte, indem er sich auf weitgehende Arbeitsunfähigkeit berief. [...]

41 Soweit die Beklagte vorträgt, der Kläger habe es zu vertreten gehabt, dass er seine gesundheitlichen Einschränkungen nicht durch eine Therapie oder Ähnliches gemindert habe, so kann der Senat dem weder aus subjektiver noch aus objektiver Sicht folgen. In subjektiver Hinsicht stellt die Beklagte zu hohe Anforderungen an die dem Kläger mögliche Reaktion auf seine Krankheit. Laut Gutachten vom ... 2013 leidet der Kläger an einem durch die Depression bedingten fehlenden Antrieb und ist aufgrund von Konzentrationsstörungen nicht in der Lage, Dargebotenes ausreichend präzise zu erfassen. Die Merkfähigkeit des Klägers sei so beeinträchtigt, dass er nur mangelhaft in der Lage sei, neue Informationen wiederzuerkennen und abzurufen. Der Kläger verfüge nur über eine stark verminderte kognitive Leistungsfähigkeit. Unter diesen Bedingungen eine aktive Rolle des Klägers bei der Überwindung seiner Krankheit zu fordern, ist dem Kläger nicht zuzumuten. Aber auch in objektiver Hinsicht kann der Senat nicht erkennen, dass der Kläger, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, eine adäquate Therapiemöglichkeit hätte finden können. [...]

43 In dem Rahmen, in dem der Kläger allenfalls zumutbar hätte arbeiten können, wäre alles andere als eine geringfügige Beschäftigung im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV nicht zu erwarten gewesen. Diese war bis Ende 2012 rentenversicherungsfrei (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI in der Fassung bis zum 31.12.2012), seitdem besteht eine Befreiungsmöglichkeit (§ 6 Abs. 1b Satz 1 SGB VI). Selbst wenn der Kläger sich also erfolgreich um eine Beschäftigung bemüht hätte, hätte er sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen können, so dass keine Anwartschaften entstanden wären. Die Inanspruchnahme einer von Gesetz wegen eingeräumten Befreiungsmöglichkeit kann nicht als Verletzung einer sozialrechtlichen Obliegenheitspflicht gewertet werden. Prägend für den Leistungsbezug wären die erworbenen Anwartschaften, d.h. Rentenversicherungsbeiträge eines geringfügig Beschäftigten von Juli 2012 bis Dezember 2016, ohnehin kaum. [...]