VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 05.10.2020 - 2 K 131.19 A - asyl.net: M28966
https://www.asyl.net/rsdb/M28966
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für exilpolitisch engagierte Syrerin:

1. Personen, die das Assad-Regime dem oppositionellen Umfeld zuordnet, droht in Syrien eine flüchtlingsrelevante Verfolgung.

2. Einer Person, die sich über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen engagiert und in hervorgehobener Weise öffentlich gegen das Assad-Regime positioniert hat, ist nach den Maßstäben des syrischen Regimes dem oppositionellen Umfeld zuzuordnen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Exilpolitik, politische Verfolgung, Opposition, Menschenrechtsorganisation, Nachfluchtgründe, Frauen,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat aufgrund ihrer exilpolitischen Aktivitäten in der Bundesrepublik begründete Furcht vor Verfolgung im Fall einer Rückkehr nach Syrien. Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Anders als beim Grundrecht auf Asyl (vgl. § 28 Abs. 1 AsylG) sind daher selbstgeschaffene Nachfluchttatbestande, die bis zur Unanfechtbarkeit des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, uneingeschränkt zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 24. September 2009 -, BVerwG 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. August 2017 - A 11 S 710/17 - juris Rn. 31).

Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage droht Personen, die das Assad-Regime dem oppositionellen Umfeld zuzählt, in Syrien eine flüchtlingsrechtliche relevante Verfolgung. Syrische Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien anstreben, werden durch das Regime verfolgt, ihre Mitglieder verhaftet und mit allen Mitteln unterdrückt. Oppositionelle politische Tätigkeit, oder auch nur Verdacht dessen, werden vom Regime meist als "terroristische Aktivitäten", "Verschwörung gegen den Staat", "Hochverrat" oder ähnlich gravierende Vergehen behandelt. In der Anwendungspraxis der regimekontrollierten syrischen Justiz reicht der Verdacht hierauf aus, um vor Militärgerichtshöfen oder gesonderten Gerichtshöfen der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012 verfolgt zu werden, in denen wenige bis keine Rahmenbedingungen eines fairen Rechtsverfahrens bestehen. Die Anti-Terror-Gesetze wurden in den vergangenen Jahren immer wieder dazu missbraucht, gegen in Syrien und im Ausland lebende Oppositionelle bzw. Regimegegner auch in Abwesenheit drakonische Strafen zu verhängen. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränken sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Seit Beginn des Aufstands im März 2011 sind unzählige Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, Verschwindenlassen, tätlichen Angriffen, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschlägen belegt. Viele Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger, die im Land blieben, mussten in den Untergrund gehen oder in die von der Opposition kontrollierten Gebiete fliehen (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: 20. November 2019, S. 10 f.; Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: 19. Mai 2020, S. 4 f.).

Die Klägerin ist aufgrund ihrer über einen längeren Zeitraum andauernden politischen Tätigkeit nach den Maßstäben des syrischen Regimes dem oppositionellen Umfeld zuzuzählen. Sie hat dargelegt, dass sie Mitglied verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist und sich in dieser Funktion spätestens seit Anfang des Jahres 2018 in hervorgehobener Weise öffentlich gegen das Assad-Regime positioniert hat. [...]

Diese Tätigkeit ist zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) auch Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung der Klägerin. [...]

Es ist auch beachtlich wahrscheinlich, dass das syrische Regime Kenntnis von der exilpolitischen Tätigkeit der Klägerin erlangt hat. Mit der Konsolidierung der Machtposition des Assad-Regimes im Inland ging auch eine Stabilisierung der nachrichtendienstlichen Strukturen einher. Der Aufgabenschwerpunkt syrischer Nachrichtendienste im Ausland ist die Ausforschung der Gegner des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch Menschenrechtsaktivisten und die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen. Deutschland steht als Hauptaufnahmeland syrischer Flüchtlinge in Europa weiterhin im Fokus der syrischen Nachrichtendienste. Die syrischen Dienste scheinen den Zustrom syrischer Flüchtlinge nach Deutschland ab 2015 genutzt zu haben, um hier neue Strukturen und Agentennetze zu etablieren. Im Vergleich zu den Vorjahren ist im Jahr 2019 die Zahl der Hinweise auf entsprechende Aufklärungsbemühungen nicht nur im Flüchtlingsumfeld erheblich gestiegen. Neben klassischer nachrichtendienstlicher Ausforschung konnten auch Bestrebungen festgestellt werden, die öffentliche Meinung in Deutschland im Sinne der syrischen Regierung zu beeinflussen (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Verfassungsschutzbericht 2019, S. 306 f.). Die Klägerin ist in besonders hervorgehobener Stellung und exponierter Weise öffentlich als Gegnerin des Assad-Regimes tätig. Sie hat an einer Vielzahl öffentlicher Diskussionsveranstaltungen auf dem Podium teilgenommen und sich dabei kritisch zu den durch das Assad-Regime begangenen Handlungen eingelassen. Ein Schwerpunkt bildete dabei die (auch sexualisierte) Gewalt gegen oppositionell tätige Frauen. [...]