VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 07.10.2020 - 10 A 20/19 - asyl.net: M28946
https://www.asyl.net/rsdb/M28946
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für zum Bahaitum konvertierte Iranerin:

"1. Ein bloß formal vollzogener Übertritt vom islamischen Glauben zum Bahaitum genügt nicht für die Annahme einer dem Betroffenen in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt vielmehr eine echte Glaubensentscheidung des Schutzsuchenden voraus, die im Fall einer Rückkehr trotz der in Iran drohenden Nachteile und Gefahren Bestand hätte und erwarten lässt, dass der Betroffene an seinem neuen Glauben festhält und diesen auch in Iran praktizieren will.

2. Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich derzeit keine Anhaltspunkte, dass eine vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland ausgestellte Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde den Betroffenen schon für sich genommen der Gefahr aussetzt, im Rückkehrfall Diskriminierungen oder Willkür­maßnahmen zu erleiden.

3. Zur Bedeutung einer vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland ausgestellten Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde für die richterliche Überzeugungsbildung hinsichtlich der Glaubens­entscheidung des Betroffenen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Bahai, religiöse Verfolgung, Religionsgemeinschaft, Religionszugehörigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

18 1. Der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht. [...]

24 Hiervon ausgehend steht zur gerichtlichen Überzeugung fest, dass der Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Iran aufgrund ihrer Konversion zum Bahaitum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG droht.

25 a) Das Gericht geht entsprechend der gefestigten Erkenntnislage und Rechtsprechung davon aus, dass die Abwendung vom Islam und Hinwendung zum Bahaitum in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG führt (vgl. etwa VG Trier, Urt. v. 16.5.2013, 2 K 1011/12.TR, juris S. 10; VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 25; Urt. v. 13.11.2017, W 8 K 17/31790, juris Rn. 30; VG Berlin, Urt. v. 7.3.2018, 3 K 829/16 A, juris Rn. 26; VG Augsburg, Urt. v. 9.5.2019, Au 5 K 18/31137, juris Rn. 29 f.; auch VG München, Urt. v. 1.8.2014, M 2 K 14/30088, juris Rn. 26).

26 Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. Februar 2020 (S. 13 [2020/1]1) geht hervor, dass Bahá’í in Iran als Abtrünnige angesehen werden; sie seien wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und stellten derzeit die am stärksten in ihren Rechten eingeschränkte Minderheit dar. Vom Pensions- und Sozialversicherungssystem seien Bahá’í ebenso ausgeschlossen wie vom Zugang zu höherer Bildung. Seit Januar 2020 müsse zudem für die Beantragung eines Personalausweises ein Formular verwendet werden, in dem das Bahaitum nicht als Glaubensrichtung angegeben werden könne, sodass Bahá’í gezwungen seien, zur Erlangung eines Ausweises als Voraussetzung für die Inanspruchnahme grundlegender öffentlicher Dienstleistungen ihren Glauben zu verleugnen. [...]

27 Ein bloß formal vollzogener Übertritt vom islamischen Glauben zum Bahaitum genügt gleichwohl nicht für die Annahme einer dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung (so auch VG München, Urt. v. 1.8.2014, M 2 K 14/30088, juris Rn. 26 f.; VG Stuttgart, Urt. v. 13.5.2016, A 11 K 3939/15, juris Rn. 40; VG Augsburg, Urt. v. 9.5.2019, Au 5 K 18/31137, juris Rn. 31). Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass eine vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland ausgestellte Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde den Betroffenen schon für sich genommen der Gefahr aussetzt, im Rückkehrfall Diskriminierungen oder Willkürmaßnahmen der genannten Art zu erleiden. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt vielmehr eine echte Glaubensentscheidung des Schutzsuchenden voraus, die im Fall einer Rückkehr trotz der in Iran drohenden Nachteile und Gefahren Bestand hätte und erwarten lässt, dass der Betroffene an seinem neuen Glauben festhält und diesen auch in Iran praktizieren will. Es muss – so auch vorliegend – festgestellt werden können, dass die Hinwendung des Schutzsuchenden zum Bahai - tum auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit festen, identitätsprägenden Überzeugungen und nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruht (vgl. VG Stuttgart, a.a.O. Rn. 41; VG Augsburg, a.a.O.). Denn nur wenn der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt, ist es ihm nicht zumutbar, seine neue Glaubenszugehörigkeit im Herkunftsland zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen zu verschweigen, zu verleugnen oder aufzugeben (vgl. für den Fall einer Konversion zum christlichen Glauben OVG Hamburg, Urt. v. 11.9.2012, 5 Bf 336/04.A, juris Rn. 48). Sich hierzu gezwungen zu sehen, würde den Schutzsuchenden in aller Regel existenziell in seiner sittlichen Person treffen und ihn in eine ausweglose, unzumutbare Lage bringen (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 26.7.2007, 8 UE 3140/05.A, juris Rn. 20).

28 Die religiöse Identität des Schutzsuchenden kann dabei als innere Tatsache nur auf Grundlage von dessen Vorbringen und im Wege eines Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen festgestellt werden (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 25.8.2015, 1 B 40/15, juris Rn. 14 m.w.N.). Ein danach grundsätzlich zu berücksichtigender Umstand ist die Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde. Hiervon zu trennen ist jedoch die Frage, welche Aspekte der Glaubensüberzeugung und -betätigung für die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägend sind (vgl. zuletzt – bezogen auf die durch Taufe begründete Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft – BVerfG (K), Beschl. v. 3.4.2020, 2 BvR 1838/15, juris Rn. 30; vorgehend BVerwG, a.a.O. Rn. 11). Insoweit besteht keine Bindung des Gerichts an die Bewertung der individuellen Glaubensüberzeugung und -betätigung durch die Religionsgemeinschaft, welcher der Schutzsuchende angehört. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, wie der Betroffene seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 11 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 5.9.2012, C-71/11 u.a., NVwZ 2012, 1612; bestätigt durch BVerfG (K), a.a.O. Rn. 27 ff.; s. auch Fleuß, BDVR-Rundschreiben 1/2020, 38, 39). Hierzu ist der Stellung des Schutzsuchenden zu seinem Glauben nachzugehen, namentlich der Intensität und Bedeutung der von ihm selbst empfundenen Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für die eigene religiöse Identität (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 31). Dass er sich in diesem Sinne zur Betätigung seines Glaubens verpflichtet fühlt, muss der Schutzsuchende dabei zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (§ 108 Abs. 1 VwGO, vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 30 m.w.N. = BVerwGE 146, 67), wobei im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung die besondere Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 34). [...]

29 b) In Anwendung dieser Grundsätze hat der Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass sich die Klägerin in einer ihre religiöse Identität prägenden Weise dem Bahaitum zugewandt hat. [...]

31 Die Anhaltspunkte für eine echte Glaubensentscheidung zugunsten des Bahaitums sind im Fall der Klägerin indes nicht auf die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde beschränkt. Vielmehr vermochte die Klägerin die Beweggründe für ihre bereits in Iran begonnene Auseinandersetzung mit dem Bahá’í- Glauben plausibel zu erläutern: Dass sie nach dem Tod ihrer Mutter eine Stütze in ihrer dem Bahaitum angehörenden Freundin F gefunden hat und so mit dem Bahá’í-Glauben zunehmend in Berührung gekommen ist, erscheint nachvollziehbar. [...]

32 Mit zentralen Inhalten des Bahá’í-Glaubens zeigte sich die Klägerin auch im Übrigen vertraut: [...]

33 Insgesamt ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Hinwendung zum Bahaitum im Fall einer Rückkehr nach Iran nicht verheimlichen bzw. auf eine Betätigung ihres Bahá’í-Glaubens allenfalls unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungenermaßen verzichten würde. [...]