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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 25.08.2020 - XIII ZB 99/19 - asyl.net: M28944
https://www.asyl.net/rsdb/M28944
Leitsatz:

Rechtswidrige Abschiebungshaft bei fehlender Nachholung im Beisein anwaltlicher Vertretung:

1. Erfährt ein Haftgericht erst während der Anhörung, dass die betroffene Person anwaltlich vertreten ist, muss es dafür Sorge tragen, dass diese von dem Anhörungstermin in Kenntnis gesetzt wird und an der Anhörung teilnehmen kann.

2. Ist die anwaltliche Vertretung wie im vorliegenden Verfahren kurzfristig nicht zu erreichen, so darf das Haftgericht lediglich eine einstweilige Haftanordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG erlassen. Anschließend ist die Anhörung in Anwesenheit der anwaltlichen Vertretung nachzuholen.

3. Von einem Verzicht auf die Anwesenheit der anwaltlichen Vertretung kann nur bei einer ausdrücklichen Erklärung ausgegangen werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Rechtsanwalt, Prozessbevollmächtigte, Anhörung, faires Verfahren, Haftbeschluss,
Normen: FamFG § 427 Abs. 1, EMRK Art. 6, GR-Charta Art. 47 Abs. 2, AufenthG § 62,
Auszüge:

[...]

Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht noch am 7. November 2018 gegen den Betroffenen Sicherungshaft bis zum 13. Dezember 2018 an. Im Anhörungstermin wurde er darauf hingewiesen, sich in jeder Lage des Verfahrens eines Beistands, insbesondere eines Anwalts, bedienen zu können. Der Betroffene erklärte daraufhin, er habe zwei Anwälte und wolle mit Rechtsanwältin B. sprechen. Die Haftrichterin rief um 21.25 Uhr in der Kanzlei B. an, konnte dort jedoch niemand erreichen. Der Betroffene erklärte daraufhin, er möchte, dass Rechtsanwältin B. den Antrag und gegebenenfalls die Entscheidung per Fax erhalte. Er werde sich außerdem am Folgetag telefonisch mit ihr in Verbindung setzen. [...]

2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Amtsgericht hat den Betroffenen in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert einem Betroffenen, sich zur Wahrung seiner Rechte in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen. Erfährt der Haftrichter erst während des Anhörungstermins, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss er dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Anhörungstermin in Kenntnis gesetzt wird und an der Anhörung teilnehmen kann (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2018 - V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 4 f.; Beschluss vom 20. Mai 2020 - XIII ZB 73/19, juris Rn. 7). [...]

Soweit der Betroffene nach diesem erfolglosen Versuch, die Anwältin zu erreichen, mitgeteilt hat, er wolle, dass Frau Rechtsanwältin B. den Antrag und gegebenenfalls die Entscheidung per Fax erhalte, durfte das Beschwerdegericht nicht annehmen, der rechtsunkundige Betroffene habe damit deutlich gemacht, nicht auf einer Beratung mit der Rechtsanwältin und deren Anwesenheit vor Erlass des Beschlusses zu bestehen. Anders als in dem vom Beschwerdegericht angeführten Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 31. Januar 2012 (V ZB 117/11, juris Rn. 4) fehlt es hier schon an einer ausdrücklichen Erklärung des Betroffenen, sich auch ohne Anwesenheit seines Bevollmächtigten äußern zu wollen. Vielmehr hat der Betroffene, nachdem seine Anwältin unerreichbar war, im Gegenteil erklärt, er wolle sich nicht zur Sache äußern. Die Bereitschaft, anwaltliche Hilfe erst nach einer endgültigen erstinstanzlichen Haftanordnung in Anspruch nehmen zu wollen, konnte den protokollierten Äußerungen des Betroffenen danach nicht entnommen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2020 - XIII ZB 73/19, juris Rn. 9). [...]