VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 15.06.2020 - W 8 K 20.30255 - asyl.net: M28933
https://www.asyl.net/rsdb/M28933
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen bisexuellen Mann aus Algerien:

Homosexuellen und Bisexuellen droht in Algerien Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung. Homosexuelle Handlungen sind strafbar, Diskriminierung und gewalttätige Übergriffe gegen Homosexuelle werden von der Polizei geduldet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Algerien, bisexuell, homosexuell, sexuelle Orientierung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

35 Homosexuellen und auch Bisexuellen droht in Algerien nach den vorliegenden Informationen aus den Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung. Gleichgeschlechtliche Beziehungen und homosexuelle Handlungen sind nach Art. 333 und 338 des algerischen Strafgesetzbuches strafbar und könne mit Haftstrafen bis zu drei Jahren und Geldstrafen geahndet werden. Die vage Definition von homosexuellen Akten und Akten gegen die Natur im Gesetz erlaubt gemäß LGBT-Aktivisten pauschale Beschuldigungen, welche in zahlreichen Inhaftierungen wegen gleichgeschlechtlicher Beziehungen resultieren, allerdings in keinen Verurteilungen. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezügen zur Homosexualität vor. In der Rechtpraxis finden beide Vorschriften regelmäßig Anwendung, insbesondere werden die Vorschriften von den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Verhinderung der Gründung von Schutzorganisationen homosexueller Personen herangezogen. Da homosexuelle Handlungen vom Koran verboten, gesetzlich unter Strafe und von der Gesellschaft stigmatisiert werden, gibt es in Algerien keine einzige offiziell anerkannte NGO in diesen Kontext. LGBT-Organisationen sind politisch marginalisiert. Ihre Registrierung wird eingeschränkt. Eine systematische Verfolgung homosexueller Personen (verdeckte Ermittlungen etc.) findet nach vorliegenden Erkenntnissen nicht statt. Homosexualität wird für die Behörden dann strafrechtlich relevant, wenn sie offen ausgelebt wird. Homosexualität ist ein Tabu-Thema. Es kann weiter nicht ausgeschlossen werden, dass Homosexuelle aufgrund ihrer als unislamisch empfundenen Lebensweise durch islamistische Gruppierungen gefährdet sind. In arabischen Zeitungen erscheinen vereinzelt Hassartikel. Die Polizei duldet Diskriminierung oder gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle. Übergriffe kommen regelmäßig vor und Betroffene verzichten aus Angst vor Offenlegung ihrer sexuellen Orientierung häufig auf eine Anzeige. Aus Angst, selbst verhaftet zu werden, vermeiden Homosexuelle Übergriffe bei der Polizei zu melden. Aktivisten berichten vielmehr in der Vergangenheit von willkürlichen Verhaftungen, physischer und sexualisierter Gewalt durch Polizeibeamte. Viele LGBT-Personen lebten ihre Sexualität nicht offen aus, um Diskriminierung, familiäre und soziale Ausgrenzung oder Belästigung zu vermeiden. Im Februar des Jahres 2019 wurde ein junger Mann in seinem Zimmer in einem Studentenwohnheim in Algier dort aufgefunden. Auf den Wänden stand geschrieben "He is gay" - Er ist schwul - (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 18.3.2020, S. 25 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der demokratischen Volksrepublik Algerien, Stand: Mai 2019, vom 25.6.2019, S. 14 und 16; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Stand: 6/2019, S. 3 f.; Deutsche Welle, Sichere Herkunftsstaaten? Homosexuelle in Maghreb vom 15. Februar 2019 (https://www.dw.com/de/sichere-herkunftsstaatenhomosexuelle-im-maghreb/a-47502207; Wikipedia, LGBT-Rechte in Algerien en.wikipedia.org/wiki/ LGBT_rights_in_Algeria; Queer, Algerien: Student aus Homo-Hass getötet, vom 11. Februar 2019 www.queer.de /detail.php?article_id=32957 sowie LSVD, Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, www.lsvd.de/de/recht/rechtsprechung/asylrecht/herkunftslaender, auch mit Aussagen der Bundesregierung zum Thema).

36 Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur wenige Fälle der Verurteilung wegen Homosexualität offiziell dokumentiert sind, ist festzuhalten, dass nach den vorstehenden Ausführungen die Dunkelziffer deutlich höher ist. Zudem kommt es darüber hinaus regelmäßig zu Diskriminierungen und tätliche Übergriffen. Auch der Umstand, dass im Privaten gelebte Homosexualität bzw. Bisexualität in der Regel nur auf Anzeige von Familien und Nachbarn oder sonstigen Privatpersonen verfolgt wird, führt nicht zu einer  anderen Beurteilung. Denn zum einen ist Homosexuellen bzw. Bisexuellen nicht zuzumuten, ihre sexuelle Orientierung nur im Verborgenen zu leben und damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum anderen droht Homosexuellen aufgrund des gesellschaftlichen Klimas jederzeit die Anzeige aus ihrem privaten Umfeld heraus. Anzeigen erfolgen nicht allein aus dem Kreis der Familie, sondern aus Teilen der Öffentlichkeit. Somit besteht auch kein interner Schutz in anderen Landesteilen. Maßgeblich ist, dass in der Praxis Freiheitsstrafen wegen homosexueller Handlungen verhängt werden und damit die konkrete Gefahr einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung besteht. Diskriminierungen und Bedrohung von privater Seite sind zudem flüchtlingsrelevant, weil Homosexuelle bzw. Bisexuelle, denen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, nach der Auskunftslage keinen Schutz vom algerischen Staat erwarten können. Der Kläger, der glaubhaft dargelegt hat seine bisexuelle Identität auch ausleben zu wollen, muss damit rechnen, dass seine Bisexualität bzw. auch Homosexualität öffentlich bemerkt wird und nicht ohne Folgen bleibt (im Ergebnis ebenso VG Karlsruhe, U.v. 14.8.2018 - A 1 K 6549/16 - asyl.net: M27794 - www.asyl.net/rsdb/m27794/; andere Ansicht noch VG Frankfurt, U.v. 5.3.2020 - 3 K 2341/19.F.A - juris; VG Cottbus, U.v. 4.10.2017 - 5 K 1908/16.A - juris; SaarlOVG, B.v. 4.2.2016 - 2 A 48/15 - juris; VG Hamburg, U.v. 17.2.2011 - 4 A 265/10 - juris; VG Trier, U.v. 29.10.2010 - 1 K 907/10.TR - juris; VG Regensburg, U.v. 15.9.2008 - RN 8 K 08.30020 - juris). [...]