VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 27.08.2020 - A 10 K 8179/17 (Asylmagazin 10-11/2020, S. 376 ff.) - asyl.net: M28908
https://www.asyl.net/rsdb/M28908
Leitsatz:

Familienschutz für Vater eines im Bundesgebiet geborenen Kindes mit Flüchtlingsanerkennung:

"§ 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG [, in dem der Familienschutz von Eltern eines schutzberechtigten Kindes geregelt ist,] verlangt nicht zwingend, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat geboren wurde.

Eine Familie kann auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden haben, wenn die Eltern eines in der Bundesrepublik geboren Kindes im Herkunftsstaat nicht verheiratet waren und in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt, jedoch bereits eine Beziehung geführt haben, die aufgrund flüchtlingsrelevanter Umstände im Geheimen stattfinden musste."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Familienschutz, nichteheliches Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Familieneinheit, Schutz von Ehe und Familie, nachgeborenes Kind, Vaterschaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 26 Abs. 3, AsylG § 26 Abs. 5
Auszüge:

[...]

23 Nach § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 AsylG ist den Eltern eines minderjährigen ledigen Kindes, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, auf Antrag die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn die Anerkennung unanfechtbar ist, die Familie i.S.d. Art. 2 Buchstabe j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestand, in dem der als Flüchtling Anerkannte verfolgt wird, die Eltern vor der Anerkennung des Ausländers eingereist sind oder den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben und die Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.

24 Diese Voraussetzungen sind im Streitfall im Hinblick auf den Kläger gegeben. Dem minderjährigen, unverheirateten Sohn des Klägers, ..., ist unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Der Kläger hat seinen Asylantrag vor der Anerkennung seines Sohnes gestellt. Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Anerkennung des Sohnes des Klägers zu widerrufen oder zurückzunehmen wäre. Schließlich hat die Familie auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden. Dem stehet weder entgegen, dass der Sohn des Klägers erst in der Bundesrepublik geboren worden ist, noch, dass der Kläger nicht bereits in Afghanistan mit der Mutter seines Sohnes in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat.

25 a) § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG verlangt nicht zwingend, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat geboren wurde (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 -, juris, Rn. 17 ff.; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 -, juris, Rn. 25 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 - A 17 K 9210/17 -, juris, S. 5; VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 - 11 K 3416/17.A -, juris, Rn. 22 ff.; Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand März 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b; Broscheidt, ZAR 2019, 174 <176 ff.>; a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16. 31043 -, juris, Rn. 27; VG Würzburg, Urteil vom 29. August 2017 - W 4 K 17.31679 -, juris, Rn. 15 f.; Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 63). [...]

33 b) Eine Familie kann auch schon i.S.d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG im Herkunftsstaat bestanden haben, wenn die Eltern eines in der Bundesrepublik geboren Kindes im Herkunftsstaat nicht verheiratet waren und in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt, jedoch bereits eine Beziehung geführt haben, die aufgrund flüchtlingsrelevanter Umstände im Geheimen stattfinden musste.

34 § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG verlangt, dass die Familie schon im Herkunftsstaat bestanden hat. Davon kann nicht die Rede sein, wenn die Familie erst in Deutschland entstanden ist (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 2. April 2019 - 23 ZB 17.31944 -, juris, Rn. 7). Allerdings ist eine bestehende Ehe nicht zwingende Voraussetzung (a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16.31043 -, juris, Rn. 27; VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juni 2019 - A 10 K 9441/17 -, juris, Rn. 30; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand Juli 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b). Zwar wird man regelmäßig (nur) von einer im Herkunftsstaat bestehenden "(Kern-)Familie ausgehen können, wenn die Eltern des in der Bundesrepublik geborenen Stammberechtigten bereits im Herkunftsstaat zumindest in eheähnlicher Gemeinschaft zusammengelebt habe. An einer solchen eheähnlichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Lebensgefährtin fehlt es vorliegend allerdings nur deshalb, weil die Lebensgefährtin des Klägers mit einem anderen Mann zwangsverheiratet werden sollte und für die beiden somit aus flüchtlingsrelevanten Gründen keine Möglichkeit bestand, eine eheähnliche Lebensgemeinschaft zu führen. Im Rahmen der ihnen verbleibenden Möglichkeiten haben der Kläger und seine Lebensgefährtin ihre Beziehung gepflegt. Auch die Tatsache, dass beide gemeinsam geflohen sind, nachdem die erste Schwangerschaft der Lebensgefährtin offenbar wurde, belegt, dass es sich keinesfalls um eine bloß lockere Beziehung gehandelt hat. Stehen aber lediglich flüchtlingsrelevante vom Willen der Betroffenen unabhängige Gründe der Führung einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft entgegen, steht dies der Annahme einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden (Rest-)Familie nicht entgegen. Insoweit ist abermals auf die gesetzgeberischen Zwecke des Familienasyls zu verweisen. Auch in einer solchen Situation besteht - wenn später ein Stammberechtigter im Bundesgebiet zu Welt kommt - eine besondere Nähe zur Gefährdungssituation und ein schutzwürdiger Familienverband. Auch asyltaktische Motive sind in einer solchen Konstellation ausgeschlossen.

35 c) Selbständig tragend stützt der Berichterstatter die Entscheidung auch auf folgende Erwägungen: Nimmt man entgegen der hier vertretenen Auffassung an, dass der Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG voraussetzt, dass der Stammberechtigte im Herkunftsstaat geboren sein muss oder dass eine "(Rest-)Familie" nur im Herkunftsstaat bestanden hat, wenn die Eltern verheiratet sind oder zumindest in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe, so wären der Wortlaut insoweit zu weit und teleologisch zu reduzieren.

36 aa) Das Wesen der teleologischen Reduktion besteht - als Gegenstück zur Analogie - darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen. Bei einer derart planwidrigen Gesetzeslücke ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege teleologischer Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (vgl. BVerwGE 164, 179 <188 Rn. 18>).

37 bb) Ausgehend hiervon ist der Wortlaut "wenn [...] die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird" - unterstellt, er erfasst die vorliegende Konstellation nicht - zu weit. Denn er schlösse Fälle aus, bei denen eine identische Interessenlage vorliegt. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass dies keine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers war, sondern insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Wie ausgeführt, liegt in der vorliegenden Konstellation ebenso wie wenn der Stammberechtigte bereits in Afghanistan geboren worden wäre und der Kläger bereits in Afghanistan mit seiner Lebensgefährtin in einer - der Repression unterliegenden - häuslichen bzw. ehelichen Gemeinschaft gelebt hätte, eine Gefährdungsnähe und ein schutzwürdiges Interesse des Stammberechtigten am Verbleib des Klägers im Bundesgebiet vor. Dem steht nicht entgegen, dass der Lebensgefährtin des Klägers und dem gemeinsamen Sohn (auch) deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, weil zwischen dem Kläger und dessen Lebensgefährtin eine uneheliche Beziehung bestand. Für die Frage, ob die Interessenlage vergleichbar ist, kommt es auf die tatsächlich bestehende Gefährdung an, nicht ob sich diese hypothetisch anders darstellen würde, wenn der Kläger seine Lebensgefährtin hätte heiraten können. Denn das Bestehen einer Ehe kann im Kontext des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nur dazu dienen, sicherzustellen, dass eine auf Dauer angelegte schutzwürdige Bindung besteht. Dagegen ist es nicht Sinn und Zweck Fälle auszuschließen, in denen eine Ehe aus flüchtlingsrelevanten Umständen nicht eingegangen werden kann (vgl. für den Fall einer aus flüchtlingsrelevanten Gründen nicht möglichen Eingehung einer Lebenspartnerschaft bzw. gleichgeschlechtlichen Ehe im Rahmen des § 26 Abs. 1 AsylG: Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 44). [...]