Anspruch auf Analogleistungen nach Aufenthalt im Kirchenasyl:
Personen, die sich ins Kirchenasyl begeben, verlängern damit ihre Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet. Dieses Verhalten ist jedoch nicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen, weil das Kirchenasyl weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis darstellt.
(Leitsätze der Redaktion, siehe auch LSG Hessen, Beschluss vom 04.06.2020 - L 4 AY 5/20 B ER - asyl.net: M28484)
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Den Antragstellern kann nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht vorgeworfen werden, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG selbst beeinflusst haben.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R - , juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in diesem Sinne in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Der Ausländer soll von Analogleistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung anderenfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Der Ausländer darf sich also nicht auf einen Umstand berufen, den er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer sowie über die Regelung des § 2 Abs. 3 AsylbLG (a. F.) für dessen minderjährige Kinder so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalles, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analogleistungen führen. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt regelmäßig schon dann vor. wenn bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann. Eine Ausnahme hiervon ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, aaO., Rn. 44). Die objektive Beweislast für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten trägt der Leistungsträger (Oppermann/Filges in jurisPK-SGB XII , aaO., § 2 AsylbLG, Rn. 140).
Nicht in dem Nichtausreisen des Ausländers trotz (formaler) Ausreisepflicht (Duldung) liegt ein Rechtsmissbrauch, sondern allenfalls in den Gründen, die hierzu geführt haben. Der Aufenthaltsstatus (Duldung) ist für die Beantwortung der Frage, ob der Ausländer seinen Aufenthalt rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, unerheblich. Hat der Ausländer diese Gründe zu vertreten, hat er also insoweit selbst Einfluss auf das Geschehen genommen, kann nur deshalb, nicht aber wegen bestehender Ausreisepflicht, ein Rechtsmissbrauch bejaht werden. Zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts bedarf es nach dem Gesetzeswortlaut zwar einer kausalen Verknüpfung. Allerdings reicht grundsätzlich eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts aus (vergl. Urteil des BSG vom 17. Juni 2008, aaO., juris Rn. 42). es ist also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinne erforderlich (vergl. Beschluss des Hessischen LSG vom 4. Juni 2020 - L 4 AY 5/20 B ER, juris Rn. 30).
Abzustellen ist jedenfalls allein auf eine Einflussnahme auf die Dauer des Aufenthalts. Die alleinige Einreise nach Deutschland kann schon begrifflich auch in sog. Dublin-Fällen keine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer darstellen. Die in der Rechtsprechung offenbar vereinzelt gebliebene Auffassung des SG Lüneburg in der vom Sozialgericht zitierten Entscheidung ist daher abzulehnen, vgl. auch SG Landshut, Beschluss vom 02. Juli 2019 - S 11 AY 39/19 ER-. Rn. 25, juris).
Unter Berücksichtigung des oben dargelegten Maßstabes ist bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das Verhalten der Antragsteller typischerweise geeignet, die Aufenthaltsdauer zu verlängern, denn das Kirchenasyl wird von den Verwaltungsbehörden ebenso wie von der Bundesregierung respektiert. Jedenfalls in der Regel wird von Vollzugsmaßnahmen während des Kirchenasyls in den kirchlichen Räumen abgesehen und auf die Abschiebung faktisch verzichtet (vergl. Beschluss des Hessischen LSG vom 4. Juni 2020, aaO., juris Rn. 31 mit weiteren Nachweisen).
Es fehlt jedoch an der nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG geforderten Rechtsmissbräuchlichkeit, weil das Kirchenasyl weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis darstellt. Vielmehr beruht die Tatsache, dass im Kirchenasyl befindliche Ausreisepflichtige tatsächlich nicht abgeschoben werden, ausschließlich auf einer politischen und humanitären Entscheidung des Bundesministeriums des Inneren und/oder der jeweils zuständigen Ausländerbehörden. Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich - wie hier - um ein sogenanntes "offenes" Kirchenasyl handelt, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit der Dauer des Kirchenasyls und den Aufenthaltsort des Ausländers kennt, er mithin weder unauffindbar noch flüchtig ist. Das Kirchenasyl ist aufenthaltsrechtlich gerade nicht einem Untertauchen gleichzusetzen. Der Staatsgewalt ist damit der tatsächliche Zugriff auf die kirchlichen Räume nicht entzogen, sie kann vielmehr die Abschiebung einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchsetzen und damit der staatlichen Ordnung Geltung verschaffen (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 4. Juni 2020, aaO., juris Rn. 34). Verzichtet der Staat bewusst darauf, die Ausreisepflicht und damit staatliches Recht durchzusetzen, kann das Vollzugsdefizit nicht dem sich in das Kirchenasyl begebenden Ausländer angelastet werden, denn es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt vorübergehend zu tolerieren und dem Ausländer gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen (Hessisches Landessozialgericht, aaO., juris Rn. 35 mit weiteren Nachweisen). [...]