VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 07.09.2020 - 5 A 482/17 - asyl.net: M28903
https://www.asyl.net/rsdb/M28903
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für iranischen Aktivisten arabischer Volkszugehörigkeit aus Ahwaz:

Einer Person, die sich im Iran für die Rechte der arabischen Minderheit aus Ahwaz einsetzt und in diesem Zusammenhang Flugblätter verteilt und an Demonstrationen gegen die iranische Regierung teilgenommen hat, drohen staatliche Verfolgungshandlungen aufgrund der oppositionellen politischen Haltung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Araber, Ahwaz, Khuzestan, politische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Demonstrationen, Exilpolitik,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Bei Anwendung der dargelegten Grundsätze hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 4. Var. AsylG. Er befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb seines Herkunftslandes Iran. Die Einzelrichterin glaubt dem Kläger, dass er vor seiner Ausreise aus seiner Heimat politisch aktiv war für die Rechte der arabischen Minderheit in Ahwaz, zu welcher er zugehörig ist, und aus diesem Grund bereits verschiedentlich von den iranischen Sicherheitsbehörden verfolgt worden ist. So hat der Kläger in seiner Anhörung beim Bundesamt ausweislich der Niederschrift vom 14. Juli 2017 und in der mündlichen Verhandlung vom 7. September 2020 im Wesentlichen jeweils gleichbleibend und übereinstimmend vorgetragen, dass er zum ersten Mal in Folge der großen Demonstrationen in Ahwaz im Jahr 2005 festgenommen worden sei, danach nach seiner Demonstrationsteilnahme im Jahr 2011 für einen Monat inhaftiert worden und schließlich im Jahr 2013 anlässlich einer Demonstration aus Umweltgründen kurzfristig verhaftet worden sei. Er hat weiter jeweils ausgeführt, dass er dabei von den Sicherheitskräften auch geschlagen, gedemütigt und psychisch unter Druck gesetzt worden sei. Die Angaben des Klägers bezüglich der Demonstrationen in Ahwaz decken sich mit den Erkenntnissen des Gerichtes (vgl. etwa u.a. bzgl. der großen Demonstrationen in 2005: Austrian Red Cross/ACCORD, Iran: COI Compilation, Juli 2018, S. 151 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Ahwazis and Ahwazi political groups, v. Juni 2018, S. 14 m.w.N.; en.wikipedia.org: 2005-06 Ahvaz bombings, 2005 Ahvaz unrest).

Der Kläger hat ferner glaubhaft in seinen Anhörungen beim Bundesamt und im Termin zur mündlichen Verhandlung zu seinem Ausreisegrund im Jahr 2015 vorgetragen. Demnach war der Kläger seit Ende 2014 in einer Gruppe aktiv, welche politische Flugblätter für die Rechte der arabischen Minderheit in Ahwaz verteilt hat. Den in diesem Zusammenhang berichteten Vorfall vom ... 2015, bei welchem die beiden Mitstreiter des Klägers bei einer nächtlichen Verteilung von Flugblättern durch Sicherheitskräfte festgenommen worden seien, er - der Kläger - aber habe fliehen können, jedoch in der Folge die Polizei bei ihm zu Hause erschienen sei und nach ihm gesucht habe, hat der Kläger in seinen Anhörungen gleichbleibend und übereinstimmend, dabei detailliert und unter Darlegung von Motivationsgründen und Begleitgeschehen, vorgetragen. [...]

Es besteht für den in seiner Heimat demnach gegenüber den Sicherheitsbehörden bereits auffällig gewordenen Kläger nach Überzeugung der Einzelrichterin bei der vorzunehmenden bewertenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände vor dem Hintergrund der in Deutschland weitergeführten (exil-) politischen Aktivitäten des Klägers für die Rechte der arabischen Minderheit in Ahwaz im Falle einer Rückkehr die begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung. [...]

Im Hinblick auf politische Aktivitäten insbesondere der arabischen Minderheit ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnismitteln Folgendes: Die Regierung schränkt kulturelle und politische Aktivitäten der Araber ein, jedoch wurden einige lokale Clanführer in Khuzestan und anderen Gegenden, in welchen Ahwazi Araber leben, in lokale Räte gewählt, wo sie auch sehr unverblümt sprechen. Obwohl nicht erwiesen ist, dass Araber aufgrund ihrer Ethnizität verfolgt werden, ist zu beobachten, dass sie häufig wegen unklar definierten Anschuldigungen (etwa wegen "mohareb" und "mofsid-fil-arz") zu sehr hohen Strafen verurteilt wurden. Ins Visier der Behörden können Ahwazi Araber geraten, wenn sie Journalisten oder politische Aktivisten sind, die sich für Minderheitenrechte einsetzen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt, Ges.aktualisierung v. 19.06.2020, S. 62, m.w.N.; DRC/ DIS, Iran Issues concerning persons of ethnic minorities, Kurds and Ahwazi Arabs, Februar 2018, S. 10). Verschiedene kulturelle, soziale und politische Aktivitäten werden akzeptiert, aber es hängt davon ab, wie sie ausgestaltet sind. Die rote Linie ist für die iranischen Behörden überschritten, wenn von Ahwazi Arabern durchgeführte Aktivitäten als separatistisch bewertet werden. Die Ziele der Behörden sind oft hochkarätige Personen, die arabische ethnische Aktivisten sind (vgl. DRC/DIS, Iran Issues concerning persons of ethnic minorities, Kurds an Ahwazi Arabs, Februar 2018, S. 9f.). Um oppositionelle Kräfte einzuschüchtern, wenden iranische Behörden verschiedene Formen der Gewalt einschließlich willkürlicher Verhaftungen an (vgl. BFA, Länderinformationsblatt, Ges.aktualisierung v. 19.06.2020, S. 62; Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 12.01.2019, S. 11 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iran: Ahwazis and Ahwazi political groups, v. Juni 2018, S. 17).

Laut Aktivisten und Familienmitgliedern fanden im Vorfeld des zehnten Jahrestages der Massenproteste gegen die Regierung, die im April 2005 die arabisch bevölkerte Provinz ergriffen, viele Verhaftungen statt, mindestens 50 arabische Demonstranten wurden getötet. Während die meisten der in 2015 festgenommenen Personen prominente Aktivisten waren, gaben Menschenrechtsorganisationen an, einige der in 2015 festgenommenen Demonstranten seien für ihre friedlich zum Ausdruck gebrachte abweichende politische Meinung oder für das öffentliche Zurschaustellen ihrer arabischen Identität verfolgt worden (vgl. Australian Government, DFAT Country Information Report Iran, v. 14.04.2020, S. 25; UK Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Ahwazis and Ahwazi political groups, v. Juni 2018, S. 17). Nach dem Terrorangriff in Ahwaz im September 2018 mit 30 Toten wurden offiziell 22 Personen aus dem Umfeld der Untergrundorganisation "Al-Ahwaziya" festgenommen, die Opposition hat von bis zu 800 Festnahmen berichtet. Aktivisten berichteten, dass nach einer Serie von unter Folter erzwungenen Geständnissen geheime Hinrichtungen durchgeführt worden sind. Mit weiterer Repression gegen arabische Oppositionsgruppen ist zu rechnen (BFA, Länderinformationsblatt, Ges.aktualisierung v. 19.06.2020, S. 62, m.w.N.; MRGI/Ceasefire, In the Name of Security, Human rights violations under Iran's national security laws, S. 23, Juni 2020).

Der Kläger ist nach seinem Vorbringen nebst dazu vorgelegten Nachweisen in Deutschland weiter exilpolitisch aktiv für die Rechte der arabischen Minderheit in Ahwaz. [...]