VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 03.08.2020 - 8 L 574/20.A - asyl.net: M28889
https://www.asyl.net/rsdb/M28889
Leitsatz:

Familienschutz auch bei unterschiedlicher Staatsangehörigkeit:

1. Familienschutz nach § 26 AsylG setzt keine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder "Verfolgungsgemeinschaft" der Familienmitglieder voraus. Es besteht kein dahingehendes ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.

2. In der Folge ist im Rahmen des § 26 AsylG nicht zu prüfen, ob sich durch eine von der stammberechtigten Person abweichende Staatsangehörigkeit eine alternative Fluchtmöglichkeit eröffnet. Dies stellt keine negative Tatbestandsvoraussetzung dar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienflüchtlingsschutz, Syrien, Jordanien, Familienangehörige, Familieneinheit, Familienschutz, familiäre Lebensgemeinschaft, Staatsangehörigkeit,
Normen: AsylG § 26 Abs. 1 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j.,
Auszüge:

[...]

Denn dem Antragsteller steht nach summarischer Prüfung ein Anspruch auf sog. Familienasyl zu. [...]

a) Die Voraussetzung nach Nr. 1 ist mit unanfechtbarer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten der Ehegattin des Antragstellers mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. Februar 2018 (Az.: ...-475) erfüllt.

b) Die Ehe hat bereits in dem Staat bestanden, in dem der stammberechtigte international Schutzberechtigte, also die Ehefrau des Antragstellers, verfolgt wurde (Nr. 2). Der jordanische Antragsteller, welcher in ... (Syrien) geboren wurde, hat seine Frau, welche die syrische Staatsbürgerschaft besitzt, laut Übersetzung der Ehebescheinigungen (Blatt 65, 84, 108, 113 der Verwaltungsakte) am ... 2001 in Syrien geehelicht. Auch dürfte die Ehe dort in Form einer tatsächlichen Lebensgemeinschaft bestanden haben, weil der Kläger — von der Antragsgegnerin unwidersprochen — bis zum Jahr 2013 in Syrien gemeinsam mit seiner Familie gelebt hat, bevor er — in der vergeblichen Hoffnung, seine Familie nachholen zu können — nach Jordanien ausreiste. [...]

c) Des Weiteren hat der Antragsteller seinen Asylantrag, wie nach Nr. 3 geboten, unverzüglich nach der Einreise gestellt. [...]

e) Soweit die Antragsgegnerin im in Rede stehenden Bescheid die Auffassung vertritt, als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 26 AsylG komme es auf eine gemeinsame Staatsangehörigkeit bzw. "Verfolgungsgemeinschaft" an, welcher im Falle des Antragstellers und seiner Ehefrau nicht besteht, folgt das Gericht dem nicht (vgl. für den Fall unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten auch VG Berlin, Urteil vom 27. November 2019 - 19 K 53/19 A -, juris Rn. 21; VG Hannover, Beschluss vom 18. November 2019 - 3 B 5314/19 juris Rn. 14 f.; VG Hamburg, Urteil vom 13. Februar 2019 - 10 AE 6172/18 -, juris Rn. 16 ff.; Epple, in: GK-AsylG, Stand: März 2019, § 26 Rn. 46; a.A. VG Kassel, Urteil vom 7. Juni 2018 -2 K 1834/17.KS.A juris Rn. 31 ff.).

Ein entsprechendes Tatbestandsmerkmal ist weder § 26 AsylG zu entnehmen, noch lassen sich dafür Anhaltspunkte in der Entstehungsgeschichte der Norm finden. Eine derartige Annahme widerspricht vielmehr der gesetzgeberischen Intention, die auch darin bestand, das Asylverfahren zu vereinfachen und "die Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten [zu] förder[n]" (vgl. die Gesetzgebungsmaterialen zur Vorgängervorschrift § 7a Abs. 3 Asyl VfG 1990 BT-Drs. 11/6960, S.29 f.). § 26 AsylG bezweckt danach nicht nur eine Regelvermutung, dass Angehörige eines Schutzberechtigten dem Verfolgungsgeschehen nahestehen, sondern auch die Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Anerkennung von Flüchtlingen, indem eine unter Umständen schwierige Prüfung eigener Verfolgungsgründe von Familienangehörigen erspart werden soll (vgl. Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition (Stand: 1. März 2020), § 26 AsylG Rn. 2; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 3).

Zudem soll die Norm auch aus sozialen Gründen die Einordnung der nahen Familienangehörigen der aus Schutzgründen aufgenommenen Personen in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik fördern. Diese Zwecke werden jedoch offensichtlich auch in solchen Fällen gefördert, in denen Familienangehörige nicht eine besondere Nähe zu dem den Flüchtlingsschutz begründenden Verfolgungsgeschehen aufweisen.

Es erscheint zudem zweifelhaft, die beabsichtigte teleologische Reduktion für Fälle der Verfolgungsferne von Familienangehörigen gerade an die Staatsangehörigkeit dieser Personen zu knüpfen. Es ist nicht ersichtlich, wieso Ehegatten mit einer anderen Staatsangehörigkeit als der Stammberechtigte nicht ggf. im Verfolgerstaat auch Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein sollten. Auch hätte der Gesetzgeber die Übereinstimmung der Staatsangehörigkeit von Stammberechtigtem und Ehegatten ohne Weiteres als Voraussetzung in § 26 Abs. 1 AsylG niederlegen können. Die im Ergebnis teleologische Reduktion der Norm könnte in einigen Konstellationen den Ehegatten vielmehr zunächst zwingen, sich räumlich vom Stammberechtigten zu trennen und im Staat der eigenen Staatsangehörigkeit Schutz zu suchen. Es ist unsicher, ob der Staat dieses Ehegatten zu dessen Gunsten schutzbereit, -willig bzw. -fähig ist oder — soweit man den Erhalt des Familienverbundes als weiteren Zweck dieser Norm und nicht allein als solchen des Ausländerrechts erkennt — auch bereit ist, dem anderen Ehegatten und gegebenenfalls weiteren Familienangehörigen Schutz zu gewähren. Dies könnte das Familienasyl faktisch unter den Vorbehalt einer internationalen Fluchtalternative für die Familie stellen. [...]