VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 24.08.2020 - 1 K 8765/17.A - asyl.net: M28870
https://www.asyl.net/rsdb/M28870
Leitsatz:

Familienschutz für minderjährige Kinder auch ohne unverzügliche Antragstellung:

Im Gegensatz zur Gewährung von Familienschutz für Ehegatten oder Eltern ist es bei der Gewährung von Familienschutz für die Kinder einer Person mit Asylanerkennung oder internationalem Schutz nach § 26 Abs. 2 AsylG nicht notwendig, dass der Asylantrag unverzüglich gestellt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienschutz, Unverzüglichkeit, minderjährig, Kind, Asylantragstellung, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AsylG § 26 Abs. 5 Satz 1, AsylG § 26 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger zu 2. hat einen Anspruch auf die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG.

Nach § 26 Abs. 2 AsylG wird ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Gemäß § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG sind die Absätze 1 bis 4 auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten entsprechend anzuwenden, wobei an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz tritt.

Zwar sieht die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) anders als § 26 AsylG eine solche Ableitung bzw. Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft auf Familienangehörige nicht vor. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist jedoch geklärt, dass Art. 3 der Qualifikationsrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, in Fällen, in denen einem Angehörigen einer Familie internationaler Schutz gewährt wird, die Erstreckung dieses Schutzes auf andere Angehörige dieser Familie vorzusehen. Denn eine günstigere Norm im Sinne von Art. 3 der Qualifikationsrichtlinie ist mit der Qualifikationsrichtlinie vereinbar, wenn sie die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährdet. § 26 AsylG weist wegen der auch in Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie angelegten Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf und gefährdet vor diesem Hintergrund weder die Ziele noch die allgemeinen Systematik der Richtlinie (vgl. EuGH, Urteil vom 04.10.2018 - C-652/16 (Ahmedbekova) -, juris Rn. 66 ff.; BverwG, EuGH-Vorlage vom 18.12.2019 - 1 C 2.19 -, juris Rn. 18).

Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG sind hier im Falle des Klägers zu 2. erfüllt.

Der Kläger zu 2. ist der minderjährige Sohn des Herrn ..., dem das Bundesamt mit unanfechtbarem Bescheid vom 13.11.2015 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt hinsichtlich der Anerkennung des Vaters des Klägers zu 2. als Flüchtling ein Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren eingeleitet und ihn diesbezüglich angehört hat, sind weder vorgetragen worden noch anderweitig ersichtlich. Anhaltspunkte dafür, dass ein Ausschlussgrund gemäß § 26 Abs. 4 AsylG oder § 26 Abs. 6 AsylG erfüllt ist, liegen ebenfalls nicht vor.

Anders als beim Ehegattenasyl ist das Erfordernis einer unverzüglichen Asylantragstellung keine Voraussetzung für die Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes für ein minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten nach § 26 Abs. 2 AsylG. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut und der Systematik des § 26 Abs. 2 AsylG, der im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 3 ausdrücklich keine unverzügliche Asylantragstellung verlangt (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 16, 30).

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes (vgl. Bl. 3 des streitgegenständlichen Bescheides) musste der Asylantrag für den Kläger zu 2. gemäß § 26 Abs. 2 AsylG demnach nicht unverzüglich nach der Einreise gestellt werden. [...]