VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 14.03.2019 - B 7 K 17.32298 - asyl.net: M28835
https://www.asyl.net/rsdb/M28835
Leitsatz:

Kein Schutz für Kleinkinder aus Äthiopien:

1. Auch alleinstehenden Eltern ohne abgeschlossene Schulbildung ist es in Äthiopien aufgrund von auch unteren Gehaltsschichten zur Verfügung stehenden Kinderbetreuungseinrichtungen möglich, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Ausgehend von der Bedeutung der (Groß-)Familie in Äthiopien ist zudem zu erwarten, dass im Land lebende Angehörige Unterstützung leisten.

2. In Äthiopien steht eine psychiatrische Behandlung zur Verfügung. Bei Nachweis der Mittellosigkeit kann eine Finanzierung der medizinischen Behandlung durch den Staat beantragt werden.

3. Vor diesem Hintergrund ist für zwei Kleinkinder, die gemeinsam mit zwei weiteren Geschwistern bei ihrer Mutter aufwachsen und deren getrennt lebender Vater an einer behandlungsbedürftigen Depression leidet, kein Abschiebungsverbot festzustellen.

4. Genitalverstümmelung ist in Äthiopien verboten und stark rückläufig mit großen Unterschieden je nach Region und Ethnie. In urbanen Regionen ist die Gefahr einer Genitalverstümmelung gegen den Willen der Eltern nicht beachtlich wahrscheinlich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, psychische Erkrankung, Genitalverstümmelung, Gurage, Existenzminimum, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Erwerbstätigkeit, familiäres Netzwerk, geschlechtsspezifische Verfolgung, Kinder,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

30 Die Mutter der Klägerin ist für den Fall der Rückkehr nach Äthiopien mit den Klägern grundsätzlich auf den Einsatz ihrer Arbeitsfähigkeit zu verweisen. In Äthiopien ist es möglich, als alleinstehende Mutter einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Erwerbsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich auch für Personen ohne abgeschlossene Schulbildung. Kinder werden häufig - bei Alleinerziehenden wie bei erwerbstätigen Personen - nach der Schule von privatem Betreuungspersonal betreut, auch in den unteren Gehaltsschichten (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 13.07.2017 - Gz. 508-516.80/49153). [...]

33 Nach Überzeugung des Gerichts können die Kläger (und ihre Mutter sowie weiteren Geschwister) im Falle der Rückkehr aber mit verwandtschaftlicher Unterstützung von engen Angehörigen der Mutter der Kläger rechnen. Diese hat anlässlich ihrer eigenen Anhörung von zwei Brüdern, zwei Schwestern und einem älteren Halbbruder berichtet sowie teilweise deren Wohnort angeben können (S. 4 der Anhörungsniederschrift im Verfahren Az. …).

34 Ausgehend von der Bedeutung der (Groß-)Familie in Äthiopien ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sämtliche Angehörige der Mutter der Kläger dieser (und den Klägern) eine notwendige Unterstützung im Falle der Rückkehr verweigern würden. Es steht vielmehr zu erwarten, dass eine erforderliche Unterstützung der der Anfangszeit und ggf. in schwierigen Situationen geleistet werden wird. [...]

41 Weiter ist prognostisch davon auszugehen, dass auch der Vater der Kläger im Falle der Rückkehr nach Äthiopien Unterstützung zugunsten der Kläger (und deren Geschwister) wird leisten können. Dass eine enge familiäre Bindung zu seinen Kinder besteht, ist für das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 13.02.2019 deutlich geworden; hierzu kann die obigen Ausführungen zu dem regelmäßig gepflegten Umgang mit den Kindern verwiesen werden. Unterstützung der Kläger durch den Vater ist in diesem Zusammenhang in einem weiten Sinne zu verstehen. Es liegt auf der Hand, dass eine erhebliche Entlastung der Mutter der Kläger (und damit freilich auch der Kläger selbst) damit erreicht werden kann, dass der Vater der Kläger beispielsweise Aufgaben in der Betreuung und Beaufsichtigung der Kinder übernimmt, so wie er dies bereits hier in Deutschland handhabt. Es wurde bereits erwähnt, dass er etwa zur Stelle ist, wenn es um darum geht, auf die Kinder aufzupassen in Phasen, in denen die Mutter der Kläger verhindert ist, weil sei z.B. einen wichtigen Termin hat (vgl. S. 3 der Niederschrift). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich die Eltern der Kläger bei Rückkehr nach Äthiopien nicht zuletzt zum Wohle ihrer gemeinsamen Kinder dahin arrangieren werden, dass sie berufliche und sonstige Aktivitäten soweit notwendig aufeinander abstimmen, selbst wenn sie als Ehepaar getrennt leben. Dass solches gelingen kann, beweisen die Eltern der Kläger bereits derzeit in Deutschland, wobei bei Rückkehr freilich einerseits schwierigere Bedingungen herrschen dürften, da insbesondere die Sicherstellung des Lebensunterhalts im Vordergrund stehen wird. Andererseits kann eben gerade von Seiten der nahen Verwandtschaft der Mutter der Kläger mit Unterstützung gerechnet werden und bestimmte Dinge etwa im täglichen Leben werden sich auch einfacher als heute gestalten, denn für die Eltern der Kläger entfällt die Sprachbarriere - die Mutter der Kläger hat diesbezüglich von Probleme bei Arzt - besuchen in Deutschland berichtet (vgl. S. 11 der Niederschrift) - und es würde die Ungewissheit hinsichtlich des Aufenthaltsstatus‘ in Deutschland entfallen, was gerade für den Vater der Kläger offenbar immer wieder zu (nachvollziehbaren) psychischen Belastungen und Problemen führt (vgl. hierzu weiter unten). [...]

43 Bei diesen Erwägungen wird nicht übersehen, dass der Vater der Kläger psychisch angeschlagen ist, die Bezirksklinik … hat auf der Grundlage wiederholter stationärer Aufenthalte zuletzt im Juli 2018 eine rezidivierende Depression diagnostiziert. Aus dem entsprechenden Arztbrief geht jedoch ebenfalls hervor, dass die Depression maßgeblich auf der (aus Sicht des Vaters des Klägers nachvollziehbaren) Perspektivlosigkeit und der Angst vor der Zukunft beruht. Ein wesentlicher Grund für die letzte stationäre Aufnahme war offenbar, dass der Vater der Kläger seine Medikation (angeblich auf Veranlassung eines behandelnden Facharztes) nicht mehr eingenommen hatte. Von Seiten der Bezirksklinik wurde das Präparat bei früherer guter Wirksamkeit erneut verordnet und es habe sich eine Verbesserung der depressiven Symptomatik eingestellt. Zuletzt habe der Vater der Kläger von sich aus auf Entlassung ins Wohnheim gedrängt, was dann bei nicht vorhandener Selbstoder Fremdgefährdung auch kurzfristig möglich gewesen sei (vgl. S. 3 des Arztbriefs vom 18.07.2018). Soweit in einer Verordnung über Krankenhausbehandlung des behandelnden Facharztes vom 19.12.2019, der der Vater der Kläger nicht Folge geleistet habe (vgl. S. 12/13 der Niederschrift), das Krankheitsbild abweichend vom dem Befund der Bezirksklinik beschrieben wird, ergibt sich nichts anderes. Auf die exakte Einordnung des Krankheitsbildes beim Vater der Kläger in die Kategorien nach ICD-10 kommt es zum einen im vorliegenden Verfahren gar nicht entscheidend an, zum anderen ergibt sich kein weiterer Aufklärungsbedarf mit Blick auf etwaige zusätzliche Funktionsbeeinträchtigungen beim Vater der Kläger, denn eine Ermittlung von Amts wegen gleichsam ins Blaue hinein ist nicht veranlasst und soweit diesbezüglich eine Beweiserhebung beantragt wurde, hat sich der entsprechende Beweisantrag als unsubstantiiert erwiesen. Auf den Beschluss des Gerichts vom 26.02.2019 wird insgesamt Bezug genommen, zu den qualitativen Anforderungen an ärztliche Atteste, die mit Blick auf die reine Krankenhausverordnung freilich keinesfalls erfüllt sind, vgl. etwa BayVGH, B.v. 24.02.2018 - 10 ZB 18.30105 - juris. [...]

45 Legt man all dies zugrunde, ist nicht ersichtlich, warum der Vater der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Äthiopien nicht ebenfalls in der Lage sein sollte, die Notwendigkeiten und Realitäten zu erkennen und sich vor allem um die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit zu bemühen und ggf. notwendige Medikamente konsequent einzunehmen.

46 Psychische Erkrankungen sind auch in Äthiopien behandelbar. Dabei werden psychiatrische Behandlungen in mehreren Krankenhäusern in Addis Abeba angeboten und es sind verschiedene Psychopharmaka erhältlich. Bei einer Rückkehr des Vaters der Kläger wird freilich darauf zu achten sein, dass er zur Überbrückung der Anfangszeit einen gewissen Medikamentenvorrat bei sich hat. Sollte es in der Folgezeit einmal zu einem finanziellen Engpass in Bezug auf die Beschaffung der Medikation kommen, kann über die Beantragung einer Armutskarte bei der Heimatgemeinde die Finanzierung der medizinischen Behandlung durch den Staat erreicht werden, wobei die Medikamentenpreise für die hier in Rede stehenden Präparate ohnehin in Äthiopien auch nach dortigen Maßstäben keineswegs als unerschwinglich einzustufen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Äthiopien: Psychiatrische Versorgung vom 05.09.2013; Lagebericht vom 17.10.2018, S. 24; IOM Länderinformationsblatt 2014, S. 9 ff.; IBZ Belgien - Mission Report 2014, S. 5 ff., 18 ff., 30 ff.). [...]

50 2. Der Klägerin zu 1 droht in Äthiopien nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung (in Form der Beschneidung). [...]

52 In Übereinstimmung mit diesem allgemeinen Befund ist auch in der mündlichen Verhandlung vom 13.02.2019 deutlich geworden, dass die weibliche Genitalbeschneidung gerade in ländlichen Regionen (noch) ein verbreitetes Problem darstellt (vgl. S. 9/10 der Niederschrift). Eine Niederlassung der Kläger mit ihren Eltern und Geschwistern kommt aber nach Überzeugung des Gerichts vornehmlich in einer urbanen Region oder deren Einzugsbereich in Betracht, denn dort dürfte sich nicht nur die Aufnahme von Erwerbstätigkeiten leichter gestalten, sondern auch drei der Geschwister der Mutter der Kläger sollen beispielsweise in Addis Abeba leben bzw. gelebt haben (vgl. S. 4 der der Anhörungsniederschrift im Verfahren Az. …). Moderne Kommunikationsmittel sind zwischenzeitlich auch in Äthiopien weit verbreitet, so dass alles dafür spricht, dass ein zwischenzeitlich abgerissener Kontakt wiederhergestellt werden kann.

53 Es ist vor dem Hintergrund des weiter fortschreitenden Einstellungswandels in der äthiopischen Bevölkerung, vor allem in größeren Städten, nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Angehörigen der Mutter der Klägerin zu 1 gegen den Willen der Mutter eine Beschneidung durchführen oder veranlassen würden. Wird aber bei der überwiegenden Anzahl von Mädchen heute keine Beschneidung mehr durchgeführt, so ist auch nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1 und/oder ihre Mutter beachtlichen gesellschaftlichen oder sonstigen Nachteilen ausgesetzt sein werden, wenn keine Beschneidung erfolgt. Die Darstellung der Mutter der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung vom 13.02.2019, dass bei Nichtbeschneidung die Klägerin zu 1 womöglich dafür verantwortlich gemacht werde, dass sie Krankheiten bringe oder in der Schule ausgegrenzt und mit Schimpfwörtern belegt werde sowie dass dies auch erhebliche Rückwirkungen auf die Mutter habe, erscheint deutlich übertrieben und wird von der Auskunftslage jedenfalls mit Blick auf eine Rückkehr in eine urbane Region nicht gedeckt. Es besteht diesbezüglich keine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Eine solche Gefahr lässt sich auch nicht aus sonstigen Quellen ableiten, insbesondere nicht aus dem vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung übergebenen Beitrag von ACCORD vom 26.01.2018. Exemplarisch sei hier auf eine Angabe auf S. 4 hingewiesen, wonach eben etwa in der Hauptstadt der Anteil von beschnittenen Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren bei 54% liege. Diese Altersspanne umfasst indessen auch Frauen, die längst eine Familie gegründet, ihre Familienplanung abgeschlossen haben und bereits vor vielen Jahren und sogar vor Jahrzehnten selbst beschnitten wurden. Es liegt auf der Hand, dass eine derart weitgefasste Vergleichsgruppe nicht geeignet ist, um die Gefahr der Beschneidung für ein heute vierjähriges Mädchen wie die Klägerin zu 1 realistisch einzuschätzen. [...]