OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 09.09.2020 - 13 ME 226/20 (Asylmagazin 10-11/2020, S. 387 f.) - asyl.net: M28825
https://www.asyl.net/rsdb/M28825
Leitsatz:

Entstehen neuer Wohnsitzauflage bei Erlöschen der Ausbildungsduldung:

1. Bei Erlöschen der Ausbildungsduldung nach § 60c Abs. 4 AufenthG entsteht bei fehlender Sicherung des Lebensunterhalts kraft Gesetzes eine neue Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d S. 1 AufenthG an dem zu diesem Zeitpunkt bestehenden Wohnort der betroffenen Person.

2. Die Wohnsitzauflage entsteht nach § 61 Abs. 1d S. 2 AufenthG an dem Ort, an dem die betroffene Person zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Duldung wohnt. Maßgebliche Duldung in diesem Sinne ist die "Anschlussduldung" nach § 60c Abs. 6 S. 1 AufenthG zur Suche nach einem weiteren Ausbildungsplatz. Ein Anspruch auf Erteilung diese Duldung entsteht unabhängig von der tatsächlichen förmlichen Erteilung mit dem Erlöschen der Ausbildungsduldung.

3. Die Erteilung einer "Anschlussduldung" nach § 60c Abs. 6 S. 1 AufenthG bedarf keiner Beantragung und steht nicht im behördlichen Ermessen, sondern hat von Amts wegen zu erfolgen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Wohnsitzauflage, Erlöschen, Anschlussduldung, Duldungsbescheinigung, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 60c Abs. 4, AufenthG § 60 c Abs. 6 S. 1, AufenthG § 61 Abs. 1d S. 1, AufenthG § 61 Abs. 1d S. 2,
Auszüge:

[...]

11 3. Weil die Systematik des deutschen Ausländerrechts grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt lässt, ein (vollziehbar) ausreisepflichtiger Ausländer vielmehr entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.3.2000 - BVerwG 1 C 23.99 -, BVerwGE 111, 62, juris Rn. 13, noch zu § 55 Abs. 2 AuslG 1990), entstand unmittelbar mit dem Erlöschen der Ausbildungsduldung am 1. August 2019 aber jedenfalls ein (von der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen zunächst - bis November 2019 (Bl. 209, 216 der BA 001) - unerkanntes) Bedürfnis nach einmaliger Erteilung einer sechsmonatigen "Anschlussduldung" (oder "Überbrückungs-Duldung", vgl. Dietz, a.a.O., § 60c Rn. 96) nach § 60a Abs. 2 Satz 10 AufenthG a.F. (heute geregelt in § 60c Abs. 6 Satz 1 AufenthG n.F.) zum Zwecke der Suche nach einer weiteren Ausbildungsstelle zur Aufnahme einer Berufsausbildung, die keines Antrags des Antragstellers bedurfte und nicht im ausländerbehördlichen Ermessen stand, sondern von Amts wegen zu erfolgen hatte (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 60a Rn. 289 (Stand: 90. EL Oktober 2017)). Eine solche "Entscheidung über die (weitere) vorübergehende Aussetzung der Abschiebung" im Sinne von § 61 Abs. 1d Satz 2 AufenthG war am 1. August 2019 zu treffen, und zwar durch die nach den obigen Ausführungen unter I.1. örtlich zuständig gebliebene Antragsgegnerin. Weil mit dem Scheitern der Ausbildung am 1. August 2019 zugleich der Lebensunterhalt des Antragstellers (erneut) nicht gesichert war, unterlag der weiterhin vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller ab diesem Tage gemäß § 61 Abs. 1d Sätze 1 und 2 AufenthG nach alledem kraft Gesetzes originär einer neuen (zweiten) Wohnsitzauflage bezogen auf seinen damaligen Wohnort (Stadt Braunschweig), so dass die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin perpetuiert wurde.

12 Unerheblich hierfür ist, dass die Antragsgegnerin von dem von Amts wegen zu befriedigenden Regelungsbedürfnis infolge der offenbar unterbliebenen Anzeige eines Nichtantritts der Ausbildung durch den Antragsteller als potentiellen Auszubildenden und durch den Ausbildungsbetrieb nach § 60a Abs. 2 Satz 7 AufenthG a.F. (heute geregelt in § 60c Abs. 5 AufenthG n.F.) zunächst keine Kenntnis erlangte und deshalb keine "Anschlussduldung" erteilte. Auf das Innehaben einer förmlich erteilten Duldung im Zeitpunkt der (hier: Neu-)Entstehung der gesetzlichen Wohnsitzauflage kommt es nicht an, weil der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer es andernfalls in der Hand hätte, sich der Wohnsitzauflage zu entziehen, indem er schlicht keine weitere Duldung beantragt (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 10.7.2019 - 11 L 267/19 -, juris Rn. 33; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 61 Rn. 21) oder - wie hier - die für das Offenbarwerden eines Duldungsbedarfs nach § 60a Abs. 2 Satz 10 AufenthG a.F. bzw. § 60c Abs. 6 Satz 1 AufenthG n.F. relevante Mitteilung unterlässt. Wird wie hier keine förmliche Duldung erteilt, kommt es auf den Ort an, an dem der Ausländer wohnte, als die Wohnsitzauflage (ggf. wieder) entstand (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 61 Rn. 40, 23 (Stand: 82. EL Dezember 2015); VG Bremen, Beschl. v. 29.4.2020 - 2 V 1830/19 -, juris Rn. 24; VG Köln, Urt. v. 17.3.2016 - 12 K 5061/14 -, juris Rn. 25), mithin Braunschweig. An den (u.U. abweichenden) Ort, an dem der Ausländer wohnte, als die letzte förmliche Duldung erteilt wurde (so wohl OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 27.7.2017 - 18 B 543/17 -, juris Rn. 37), kann hingegen nicht angeknüpft werden. Andernfalls hinge es letztlich von Zufälligkeiten der Geltungsdauern der jeweiligen Duldung ab, auf welchen Ort sich die gesetzlich mit (Wieder-)Eintritt einer Nichtsicherung des Lebensunterhalts entstehende Wohnsitzauflage bezieht. Im Übrigen würde dem Umstand, dass dem Ausländer in der Zwischenzeit der Umzug mit zuständigkeitsverändernder Wirkung erlaubt gewesen ist (vgl. oben I.1. und 2.), zu wenig Rechnung getragen. [...]