VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 19.08.2020 - 6 K 9437/17.GI.A (Asylmagazin 9/2020, S. 321 f.) - asyl.net: M28736
https://www.asyl.net/rsdb/M28736
Leitsatz:

Übergang der Verantwortung und Gewährung aller Rechte eines GFK-Flüchtlings für in Italien Anerkannten:

1. Nach Art. 2 Abs. 3 EATRR (Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge) geht die Verantwortung für eine Person mit Flüchtlingsstatus nach der GFK auf den Zweitstaat über, wenn eine Wiederaufnahme durch diesen nicht mehr beantragt werden kann. Art. 4 Abs. 1 EATRR legt fest, dass bei Ablauf des durch den Erststaat ausgestellten Reiseausweises eine Wiederaufnahme im Regelfall nur innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit möglich ist.

2. Es ist hierbei unerheblich, ob eine Verlängerung des Reiseausweises im Erststaat potentiell möglich wäre. Der Übergang setzt zudem keine Gestattung des Aufenthalts durch den Zweitstaat voraus.

3. Die Bestimmungen zur verlängerten Frist für den Antrag auf Wiederaufnahme nach § 4 Abs. 2 EATRR finden gegenüber Italien keine Anwendung, da Italien von dem Vorbehalt nach Art. 14 Abs. 1 EATRR Gebrauch gemacht hat. 

4. Ist nach dem EATRR ein Übergang der Verantwortung auf Deutschland erfolgt, so sind im Erststaat anerkannte GFK-Flüchtlinge aufenthaltsrechtlich mit Personen gleichzustellen, denen die Flüchtlingseigenschaft durch das BAMF zuerkannt wird.

(Leitsätze der Redaktion; Das EATRR wird wie im vorliegenden Urteil gelegentlich auch FlüVÜbK abgekürzt)

Schlagwörter: Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, subjektives Recht, Frist, erlaubter Aufenthalt, Reiseausweis für Flüchtlinge, Übergang der Verantwortung, Abschiebung, Abschiebungshindernis, Italien, abgelaufener Reiseausweis, Vorbehalt,
Normen: GFK Art. 28, EATRR Art. 2, EATRR Art. 8 Abs. 2, EATRR Art. 4 Abs. 1, EATRR Art. 14 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Vorliegend ist zwar bezüglich des Klägers kein Zuständigkeitsübergang nach Art. 2 Abs. 1 FlüVÜbk eingetreten, auch wenn er sich - mit Unterbrechung - seit 2014 in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Denn eine Gestattung dieses Aufenthaltes im Sinne des Art. 2 Abs. 1 des Abkommens ist insoweit nicht gegeben. Eine asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattung bzw. Duldung genügt insoweit nicht (siehe Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2.8.2018, NVwZ-RR 2019, 387; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.9.2018, Az. 7 B11097/18, juris). Hier liegt aber ein Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Abkommens vor (vgl. zu diesen Bestimmungen auch Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2.8.2018, a.a.O.; Sächsisches OVG, Beschluss vom 12.4.2016, NVwZ 2017, 244; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.5.2020, Az. 22 K 17460/17.A, juris), da sich der Kläger länger als sechs Monate nach Ablauf der Gültigkeit seines in Italien aufgrund der dortigen Flüchtlingsanerkennung erteilten Aufenthaltstitels und eines daran anknüpfenden Reiseausweises in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Ausweislich der Mitteilung der Liaisonmitabeiterin an das Bundesamt vom 19.5.2015 bzw. den vorliegenden Kopien des dem Kläger in Italien erteilten Aufenthaltstitels sowie des zugehörigen Reiseausweises ist die Gültigkeit der vorgenannten Dokumente bereits mit dem 11.12.2018 abgelaufen und wirkt sich dies im Hinblick auf die Regelung des § 77 Abs. 1 AsylG - anders als das Bundesamt meint - auf das hiesige Verfahren aus. Ob die Aufenthaltserlaubnis bzw. das Ausweisdokument aufgrund eines dahingehenden Antrags des Klägers voraussichtlich verlängert worden wäre, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Die genannten Vorschriften stellen allein auf den Ablauf der Gültigkeit ab und nicht eine etwaige Verlängerbarkeit.

Etwas anderes ergibt sich insoweit nicht aus der Anmerkung zu Art. 4 FlüVÜbk in der dem Entwurf des Ratifikationsgesetzes vom 17.2.1994 beigefügten "Denkschrift zum Übereinkommen" (BT-Drucksache 12/6852, S. 16). Insbesondere setzt die Anwendung dieser Bestimmung des Abkommens keine ausdrückliche Gestattung des Aufenthalts des Flüchtlings in den Zweitstaat voraus. Denn soweit in der Anmerkung davon die Rede ist, dass es die Entscheidung des Zweitstaates bleibe, ob er einen eingereisten Flüchtling dauerhaft aufnehmen möchte oder nicht, knüpft dies an den zuvor erfolgten Hinweis an, dass der Zweitstaat, wenn er den Übergang der Verantwortung nicht wolle, dies binnen sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises durch einfachen Antrag erreichen könne. Eine durch den Zweitstaat für den Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Frist erforderliche Zustimmung wird damit gerade nicht vorausgesetzt. [...]

Schließlich liegen hier auch die Voraussetzungen für eine Verlängerung Sechsmonatsfrist des Artikels 4 Abs. 1 FlüVÜbk nicht vor. Zwar müssen nach Artikel 4 Abs. 2 des Abkommens die Behörden des Zweitstaates, wenn ihnen der Aufenthalt des Flüchtlings unbekannt ist, den Antrag innerhalb von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt stellen, in dem der Zweitstaat von dem Verbleib des Flüchtlings Kenntnis erhalten hat, spätestens jedoch zwei Jahre nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises. Zum einen war hier aber den deutschen Behörden der Aufenthaltsort des Klägers nicht unbekannt. Zum anderen findet letztere Bestimmung gegenüber Italien keine Anwendung, da es insoweit von dem Vorbehalt gemäß Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit der Anlage des Abkommens Gebrauch gemacht hat (siehe Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Abkommens vom 14.6.1995, BGBl. II 1995, S. 540). [...]

Zwar folgt aus einer außerhalb der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Flüchtlingszuerkennung kein unmittelbares Aufenthaltsrecht in Deutschland. § 60 Abs. 1 AufenthG bestimmt dazu lediglich, dass der Betreffende nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben werden darf (S. 2) und dass das Bundesamt insoweit keine Feststellung zu treffen hat (S. 3). Ferner setzt nach dem Wortlaut des § 25 Abs. 2 S. 1 AufenthG die Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt voraus. Anders als das Bundesamt meint, ist mit dem Übergang der Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland der Flüchtling aber den im Inland vom Bundesamt anerkannten Flüchtlingen gleichzustellen. Der Staat, auf den die Verantwortung übergegangen ist, ist nicht nur nach Art. 28 GFK zur Neuausstellung eines Flüchtlingsausweises verpflichtet, sondern auch zur Gewährung aller Rechte und Vorteile, die Flüchtlingen von Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) und dem nationalen Recht sonst gewährt werden (Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25 AufenthG Rn. 15; vgl. dazu auch BVerwG, Beschlüsse vom 27.6.2017, Az. 1 C 26.16, und 2.8.2017, Az. 1 C 37.16 und 1 C 2.17; jeweils juris; sowie Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2.8.2018, a.a.O.). [...]