VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 22.06.2020 - 9 L 128/20 A - asyl.net: M28727
https://www.asyl.net/rsdb/M28727
Leitsatz:

Unterbrechung der Überstellungsfrist durch behördliche Aussetzung bei offenem Kirchenasyl:

1. Durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung im Fall eines offenen Kirchenasyls wird die Überstellungsfrist unterbrochen und beginnt erst nach Beendigung des Kirchenasyls oder bei rechtskräftiger Entscheidung des Verfahrens in der Hauptsache von Neuem zu laufen.

2. Eine betroffene Person kann sich nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen, wenn sie sich selbst missbräuchlich verhält, indem sie den Effet-Utile-Grundsatz bewusst und gewollt dadurch unterläuft, dass sie versucht, den fruchtlosen Ablauf der Dublin-Fristen herbeizuführen.

(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 - asyl.net: M27496 und BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 - Asylmagazin 4/2019, S. 117 f. - asyl.net: M26945)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kirchenasyl, Überstellungsfrist, Aussetzung der Vollziehung, Härtefall, Abschiebungsanordnung,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

Derartige Veränderungen der Sach- oder Rechtslage liegen nicht vor. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist die Zuständigkeit für sein Asylverfahren nicht wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen. Nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung ist die Überstellungsfrist, die zunächst mit dem Beschluss des Einzelrichters vom 28. Oktober 2019 - VG 9 L 650.19 A --, mit dem der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 5. September 2019 abgelehnt worden ist, neu in Lauf gesetzt worden ist, vor ihrem Ablauf wirksam durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung mit Entscheidung der Antragsgegnerin vom 11. Februar 2020 unterbrochen worden. Die auf Art. 27 Abs. 4 Alt. 1 Dublin III-VO i.V.m. § 80 Abs. 4 VwGO gestützte Aussetzungsentscheidung hat zur Folge, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist erst nach Beendigung des Kirchenasyls bzw. bei rechtskräftiger Entscheidung des Verfahrens in der Hauptsache neu beginnt.

Die Wirkung, die Überstellungsfrist neuerlich zu unterbrechen, entfällt bei der Aussetzungsentscheidung vom 11. Februar 2020 nicht deswegen, weil diese rechtswidrig wäre. Sie hält sich bei der allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung in den Grenzen, die durch das nationale Recht und Unionsrecht vorgegeben sind.

Nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO haben die Behörden grundsätzlich die Befugnis, nach Ermessen die Vollziehung auszusetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Regelungen des Asylgesetzes, insbesondere § 34a AsylG, schließen eine behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht aus. Auch bei einer im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtlich und tatsächlich möglichen Abschiebung können Gründe vorliegen, die es rechtfertigen, deren Vollziehung vorübergehend bis zu einer abschließenden gerichtlichen Klärung auszusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - BVerwG 1 C 16.18 - juris Rn. 23 f.).

Auch Unionsrecht steht einer behördlichen Aussetzung der Vollziehung nicht entgegen. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO sieht eine behördliche Aussetzung der Vollziehung sogar ausdrücklich vor. Da die behördliche Aussetzungsentscheidung den Antragsteller nicht nur begünstigt, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung vorübergehend nicht erfolgen können, sondern mittelbar auch belastet, weil sie die Überstellungsfrist unterbricht, setzt das Unionsrecht dem nach nationalem Recht eröffneten weiten Handlungsspielraum gewisse Grenzen. Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller - wie hier geschehen - einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat. Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaats aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration). Eine behördliche Aussetzung darf hiernach unionsrechtlich aus sachlich vertretbaren Erwägungen ergehen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, wenn diese dem Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind. Die Willkür- oder Missbrauchsschwelle wird aber dann überschritten, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 25 ff.).

Die Aussetzungsentscheidung der Antragsgegnerin vom 11. Februar 2020 ist nach diesen Grundsätzen rechtmäßig und hat die Überstellungsfrist neuerlich unterbrochen. Sie ist am 11. Februar 2020 als Ergebnis der "negativen Härtefallentscheidung" nach Prüfung des von der Kirchengemeinde eingereichten Dossiers über den Antragsteller entsprechend Art. 29 Abs. 1, 27 Abs. 3 lit. c) Sätze 3 f. Dublin III-VO zeitnah getroffen und gesondert begründet worden. Sie ist auch gemäß der aus den Absprachen mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz entwickelten Verwaltungspraxis, die über Art. 3 Abs. 1 GG Bindungswirkung entfaltet, vorgenommen worden (vgl. hierzu im Einzelnen VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749.19 - juris Rn. 123). Entsprechend heißt es in der Aussetzungsentscheidung, dass sich der Antragsteller entgegen den ausdrücklichen Vorgaben und dem Geiste der Vereinbarung des Bundesamtes mit den Kirchen weiterhin im Kirchenasyl befinde, obwohl das Bundesamt eine humanitäre Härte nicht habe feststellen können. Als Ergebnis der Einzelfallprüfung habe ein besonderer Härtefall nicht festgestellt werden können, zumal es nicht um die Überstellung in das Heimatland des Antragstellers (Afghanistan) gehe, sondern um eine Überstellung in die Niederlande, wo ihn ein ordnungsgemäßes rechtsstaatliches Verfahren erwarte. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Erkrankungen in den Niederlanden nicht weiter behandelt werden könnten; schließlich sei er dort bereits vor seiner Einreise nach Deutschland auch schon psychologisch behandelt worden.

Im Übrigen kann sich der Antragsteller auch nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen. Einem Antragsteller ist es verwehrt, sich auf dessen Ablauf zu berufen, wenn er sich selbst missbräuchlich verhält, indem er den Effet-utile der Dublin III-VO bewusst und gewollt dadurch unterläuft, dass er versucht, den fruchtlosen Ablauf der - gerade zu seinem Schutz einzuhaltenden - Fristen herbeizuführen, um zu verhindern, dass sein Asylbegehren durch den zuständigen Staat geprüft wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O. Rn. 124 m.w.N.). So liegt der Fall hier. [...]