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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.07.2020 - 12 S 1432/20 (Asylmagazin 10-11/2020, S. 384 f.) - asyl.net: M28710
https://www.asyl.net/rsdb/M28710
Leitsatz:

Kein verkürzter Voraufenthalt für Großeltern für Aufenthaltstitel bei nachhaltiger Integration:

"1. Ein Großelternteil, der mit einem minderjährigen ledigen Enkelkind und dessen sorgeberechtigtem Elternteil (nur) in tatsächlicher häuslicher Gemeinschaft lebt, kann sich nicht auf die zeitliche Privilegierung des sechsjährigen Aufenthaltes in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG berufen.

2. Nach der Beendigung eines Rechtszuges ist eine nachträgliche Bewilligung von Prozesskostenhilfe nur möglich, wenn der Antragsteller vor Abschluss des Verfahrens alles zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe Erforderliche getan bzw. das Gericht trotz Entscheidungsreife nicht über den Prozesskostenhilfeantrag entschieden hat, bevor das erledigende Ereignis eingetreten ist (im Anschluss u.a. an BVerfG, Beschluss vom 14.04.2010 - 1 BvR 362/10 -, juris Rn. 13 f.).

3. Im Hinblick auf die Unvollständigkeit der zur Glaubhaftmachung der Angaben in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegten Unterlagen bedarf es nur dann eines entsprechenden Hinweises des Gerichts, wenn das Gericht Anforderungen stellt, mit denen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: familiäre Lebensgemeinschaft, Großeltern, Großmutter, Großvater, minderjährig, Integration, Bleiberecht, Sorgerecht, Aufenthaltstitel, Prozesskostenhilfe, nachträgliche Bewilligung,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1 S. 1 Nr. 1, ZPO § 114 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Auch dieser Einwand hätte bei summarischer Prüfung voraussichtlich nicht zum Erfolg der Beschwerde geführt. Nach Aktenlage dürfte vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG nicht auszugehen sein. Danach wird regelmäßig vorausgesetzt, dass sich der Ausländer, falls er zusammen mit einem minderjährigen ledigen Kind in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat. Zwar hat sich die Antragstellerin unmittelbar vor Erledigung des Eilverfahrens (zum maßgeblichen Zeitpunkt bei § 25b AufenthG s. BVerwG, Urteil vom 18.12.2019 - 1 C 34.18 -, juris Rn. 23, 34) - soweit ersichtlich - seit mehr als sechs Jahren geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 18.12.2019, a.a.O., juris Rn. 37, 41) in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Zudem lebt sie mit zumindest einem minderjährigen ledigen Enkelkind und dessen sorgeberechtigter Mutter in einer gemeinsamen Wohnung. Selbst wenn man einstellt, dass der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten, insbesondere zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind, einschließen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13 -, juris), kann sich ein Großelternteil, der mit einem minderjährigen Enkel und dessen sorgeberechtigtem Elternteil (nur) in tatsächlicher häuslicher Gemeinschaft lebt, nicht auf die zeitliche Privilegierung des sechsjährigen Aufenthaltes in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG berufen.

Zwar enthält der Gesetzeswortlaut keine Angaben zu einer statusrechtlichen Beziehung zwischen dem Ausländer und dem Kind. Es muss sich demnach weder um ein leibliches Kind noch um ein Adoptivkind handeln. Auch schließt der Gesetzeswortlaut des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG nicht aus, dass bereits eine faktische häusliche Gemeinschaft zur Begründung der Privilegierung führen kann, zumindest wenn die häusliche Gemeinschaft - wie hier - jedenfalls schon einige Zeit vor der Antragstellung bestanden hat und von deren Fortbestehen für die nahe Zukunft ausgegangen werden kann (vgl. zum Ganzen Kluth in: BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition, Stand 01.01.2020, § 25b AufenthG Rn. 16; R. Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 8). Allerdings folgt aus der Gesetzessystematik und dem Zweck der Regelung, dass der Privilegierungstatbestand von sechs Jahren nur dann greift, wenn zwischen dem Ausländer und dem minderjährigen ledigen Kind ein rechtliches Verantwortungsverhältnis besteht, weil ihm als Elternteil, Vormund oder gegebenenfalls als Pfleger die Sorge für das Kind zusteht. So ergibt sich aus § 25b Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, dass der Ausländer bei Kindern im schulpflichtigen Alter regelmäßig deren tatsächlichen Schulbesuch nachweisen muss. Diese Regelung ergäbe keinen Sinn, könnte der Ausländer auf den Schulbesuch mangels Sorgerechts keinen Einfluss nehmen. Auch § 25b Abs. 4 AufenthG zeigt den Schluss auf, dass es auf eine rechtliche und nicht nur tatsächliche Verbundenheit ankommt. Der Gesetzesbegründung zu § 25b AufenthG (BT-Drs. 18/4097 S. 1, 42 f.) lässt sich nichts anderes entnehmen. Ferner entspricht dies dem Verständnis bei der im Wesentlichen wortgleichen Formulierung in § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 22.12.2009 - 19 C 09.845 -, juris Rn. 4 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 104a AufenthG Rn. 29). An einem solchen rechtlichen Verantwortungsverhältnis zwischen der Antragstellerin und einem mit ihr in häuslicher Gemeinschaft lebenden minderjährigen ledigen Kind fehlt es im vorliegenden Fall. Der Antragstellerin steht nach Aktenlage kein Sorgerecht zu, dieses wird vielmehr von der mit im Haushalt lebenden Mutter ausgeübt. Hinsichtlich der Absicht einer Großmutter, in familiärer Lebensgemeinschaft mit Tochter und Enkel zu leben, sieht das Gesetz den Weg nach § 36 Abs. 2 AufenthG mit den dort normierten - hohen - Voraussetzungen vor. [...]