VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.07.2020 - 11 S 2426/19 (Asyllmagazin 12/2020, S. 433 f.) - asyl.net: M28708
https://www.asyl.net/rsdb/M28708
Leitsatz:

Aufenthaltsrechtliche Perspektive bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch negative Vaterschaftsfeststellung:

1. Nach § 38 Abs. 1 bis Abs. 4 AufenthG können ehemalige deutsche Staatsangehörige einen Aufenthaltstitel beantragen. Nach § 38 Abs. 5 AufenthG gilt eine entsprechende Anwendung für Personen, die aus einem nicht von ihnen selbst zu vertretenden Grund bisher von deutschen Stellen als Deutsche behandelt wurden.

2. Wird ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach § 38 Abs. 5 AufenthG gestellt, so tritt die Fiktionswirkung gem. § 38 Abs. 1 S. 3 AufenthG iVm § 81 Abs. 3 Satz 1 ein, sofern die Erteilung eines Aufenthaltstitels ernsthaft in Betracht kommt. Ob die Voraussetzungen des § 38 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner abschließenden Prüfung.

3. Ein Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt abgeleitet von dem deutschen Ehepartner seiner Mutter erworben hat, verliert gem. § 17 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit bei einer negativen Vaterschaftsfeststellung, sofern diese innerhalb der ersten fünf Lebensjahre erfolgt. Es spricht viel dafür, diese Kinder Personen gleichzustellen, die im Sinne von § 38 Abs. 5 AufenthG aus nicht von ihnen selbst zu vertretendem Grund als Deutsche behandelt wurden.

4. Es ist davon auszugehen, dass in diesen Fällen regelmäßig kein Vertretenmüssen im Sinne des § 38 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Insbesondere besteht keine Pflicht der Mutter darzulegen, dass die rechtliche Vaterschaft nicht der biologischen Vaterschaft entspricht, oder gar eine Pflicht zur Vaterschaftsanfechtung gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 3 BGB.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: deutsche Staatsangehörigkeit, ehemaliger Deutscher, Aufenthaltstitel für ehemalige Deutsche, Vaterschaftsanfechtung, Fiktionswirkung, Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, Vertretenmüssen, Verfahrensduldung, Duldung, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1, AufenthG § 31 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 38 Abs. 1, AufenthG § 38 Abs. 5, AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, BGB § 1600 Abs. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

a) Die vorläufige Sicherung des Aufenthaltsrechts während des anhängigen Verwaltungs- und auch Gerichtsverfahrens um die Erteilung eines Aufenthaltstitels hat dann in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu erfolgen, wenn der Antrag auf Erteilung dieses Titels zum Entstehen einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG geführt hat und diese durch die Verbescheidung des Antrags wieder erloschen ist (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 20.09.2018 - 11 S 1973/18 -, juris Rn. 13, und vom 20.11.2007 - 11 S 2364/07 -, juris Rn. 2). Diese Voraussetzungen sind sowohl in Bezug auf die Antragstellerin (aa) als auch den Antragsteller (bb) erfüllt. [...]

bb) Der (undatierte) Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, welcher der Antragsgegnerin ausweislich eines in der Ausländerakte (Bl. 5) betreffend den Antragsteller (im Folgenden: Ausländerakte Ast.) befindlichen Anhörungsschreibens spätestens am 22. Mai 2012 vorgelegen hat, hat gemäß § 38 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgelöst. Der Senat legt den bei der Antragsgegnerin gestellten Antrag dahin aus, dass er auch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ehemalige Deutsche gerichtet ist. Ein bestimmter Aufenthaltszweck ist in dem Antrag nicht angegeben; von den im verwendeten Vordruck vorgesehenen Auswahlmöglichkeiten, darunter der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als ehemaliger Deutscher, ist keine angekreuzt. Vor diesem Hintergrund ist der Antrag dahin auszulegen, dass er auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus jedem in Betracht kommenden Grund gerichtet ist. Im Übrigen ist (jedenfalls zunächst) offensichtlich auch die Antragsgegnerin von einem zumindest auch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38 AufenthG gerichteten Antrag ausgegangen. Die Ausländerakte betreffend den Antragsteller ist unter dem Stichwort "Deutscher wird Ausländer" angelegt worden (Bl. 1 d. Ausländerakte Ast.). Weiter sind dem Antragsteller fortlaufend Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgestellt worden. Die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist hier auch tatsächlich eingetreten. Dafür genügt es im Anwendungsbereich des § 38 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG, der wiederum auf § 81 Abs. 3 AufenthG verweist, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 38 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 AufenthG ernsthaft in Betracht kommt. Ob die in der Verweisungsnorm des § 38 Abs. 5 AufenthG normierten Tatbestandsvoraussetzungen vollumfänglich erfüllt sind, bedarf an dieser Stelle keiner abschließenden Prüfung. Dies gehört vielmehr in den Bereich der Erteilungsvoraussetzungen, die im Verfahren erst geklärt werden sollen (vgl. zu diesem Gedanken in anderem Zusammenhang Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 27.03.2020 - 4 MB 11/20 -, juris Rn. 4).

Vorliegend bestehen nach summarischer Prüfung hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei dem Antragsteller um einen Ausländer handelt, der aus einem nicht von ihm zu vertretenden Grund bisher von deutschen Stellen als Deutscher behandelt wurde (sog. Scheindeutscher). Es spricht viel dafür, dass hierunter insbesondere Personen fallen, welche - wie hier der Antragsteller - die deutsche Staatsangehörigkeit nach erfolgreicher Vaterschaftsanfechtung ex tunc, also für die Zeit ab dem Zeitpunkt der Geburt, verloren haben und die deshalb nie Deutsche waren[...]. [...]

Mit der (seit 8. Dezember 2011 rechtskräftigen) negativen Vaterschaftsfeststellung ist die deutsche Staatsangehörigkeit des Antragstellers rückwirkend auf den Geburtszeitpunkt entfallen. Gemäß § 17 Abs. 3 Satz 1 Var. 3 StAG gilt § 17 Abs. 2 StAG (in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 5. Februar 2009) entsprechend bei Entscheidungen nach anderen Gesetzen, die den rückwirkenden Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge hätten, insbesondere bei der Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft nach § 1599 BGB. § 17 Abs. 2 StAG besagt, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit durch Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht die kraft Gesetzes erworbene deutsche Staatsangehörigkeit Dritter berührt, sofern diese das fünfte Lebensjahr vollendet haben. Die entsprechende Anwendung hat zur Folge, dass die Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft staatsangehörigkeitsrechtlich ohne Auswirkungen bleibt, wenn das Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit allein von der ursprünglichen Vaterschaft eines deutschen Staatsangehörigen ableitet, bei Eintritt der Rechtskraft der das Nichtbestehen der Vaterschaft feststellenden Entscheidung das fünfte Lebensjahr vollendet hat (Nds. OVG, Beschluss vom 12.09.2019 - 8 ME 66/19 -, juris Rn. 39). Das war bei dem am 15. August 2010 geborenen Antragsteller nicht der Fall. [...]

Ob der Antragsteller, der sich das Vertretenmüssen der Antragstellerin als seiner gesetzlichen Vertreterin zurechnen lassen muss (§ 278 BGB), die Behandlung als Deutscher durch deutsche Stellen zu vertreten hat, bedarf an dieser Stelle keiner abschließenden Entscheidung. Es bestehen jedenfalls hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass diese Frage im Falle des Antragstellers zu verneinen ist. Die durch das Vertretenmüssen begründete Verantwortlichkeit knüpft an den Grund für die rechtsirrige Behandlung als Deutscher an und soll alle Fälle ausschließen, in denen diese Behandlung auf ein Handeln oder Unterlassen des Ausländers zurückzuführen ist. Dabei wird kein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten vorausgesetzt. Das Ergebnis muss lediglich auf Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der Person zuzurechnen sind bzw. die Person bei entsprechendem Willen in der Lage und aus Rechtsgründen verpflichtet oder es ihr zuzumuten war, einen Vorgang zu verhindern (Berlit, in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2014, § 38 AufenthG Rn. 81 f., m.w.N.). Der Ausländer hat eine rechtsirrige Behandlung als deutscher Staatsangehöriger auch ohne aktive Täuschung zu vertreten, wenn er die Anzeige eines auch bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre möglicherweise staatsangehörigkeitsrechtlich relevanten Vorgangs unterlassen hat. Dabei erfordert ein Vertretenmüssen durch Unterlassen allerdings ein Mindestmaß an möglicher staatsangehörigkeitsrechtlicher Relevanz der nicht offenbarten Tatsachen (Berlit, in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2014, § 38 AufenthG Rn. 85).

Nach diesen Maßstäben erscheint sehr fraglich, ob die Antragstellerin die Behandlung des Antragstellers als Deutscher durch deutsche Behörden zu vertreten hat. Dass der Antragsteller zunächst die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, beruht nicht auf einem aktiven Verhalten der Antragstellerin, insbesondere nicht auf einer Täuschung. Die Einordnung des Antragstellers als deutscher Staatsangehöriger folgte vielmehr zwingend aus den gesetzlichen Regelungen. Nach § 1592 Nr. 1 BGB galt der während der bestehenden Ehe geborene Antragsteller von Gesetzes wegen als Sohn des (früheren) Ehemanns der Antragstellerin. Da letzterer Deutscher ist, erwarb auch der Antragsteller die deutsche Staatsangehörigkeit, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 StAG. Selbst wenn die Antragstellerin die Behörden darauf hingewiesen hätte, dass ihr geschiedener Ehemann nicht der biologische Vater des Antragstellers ist, hätte dies den Eintritt der Rechtsfolgen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 StAG nicht verhindert. Für die durch § 1592 Nr. 1 BGB begründete Vaterschaft des Ehemanns ist es unerheblich, ob das Kind tatsächlich in der Ehe vom Ehemann gezeugt worden ist (Wellenhofer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 1592 Rn. 13). [...]

Soweit in der Rechtsprechung ein Vertretenmüssen der Mutter in dem pflichtwidrigen Unterlassen einer Vaterschaftsanfechtung gesehen worden ist (so VG München, Urteil vom 12.12.2006 - M 12 K 06.3641, M 12 K 06.3726 -, juris Rn. 43; zu Recht kritisch VG München, Urteil vom 16.04.2009 - M 10 K 08.5928 -, juris Rn. 42 f.), begegnet dies jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden durchgreifenden Bedenken. Eine - bei Unterlassen sanktionierte - Pflicht zur Vaterschaftsanfechtung ginge weit über die von § 38 Abs. 5 AufenthG in den Blick genommene Verletzung von Informations- und Offenbarungsobliegenheiten hinaus. Die Durchführung eines familiengerichtlichen Anfechtungsverfahrens, in dem die gesamte familiäre Situation einer staatlichen Prüfung unterzogen und die biologische Vaterschaft in Frage gestellt wird, belastet die soziale Beziehung zwischen den Betroffenen. Die Belastung ist besonders groß, wenn sich bei der Abstammungsklärung herausstellt, dass der rechtliche Vater trotz sozial-familiärer Beziehung nicht biologischer Vater des Kindes ist (BVerfG, Urteil vom 17.12.2013 - 1 BvL 6/10 -, juris Rn. 105). Der hiermit verbundene Eingriff in das Recht des Kindes und der Eltern aus Art. 6 Abs. 1 GG erscheint jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn die Vaterschaftszuordnung - wie hier - auf § 1592 Nr. 1 BGB beruht. [...]