OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 17.06.2020 - 3 KO 773/18 - asyl.net: M28678
https://www.asyl.net/rsdb/M28678
Leitsatz:

Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen für irakisches Kind:

"Die lebenserhaltende medizinische Versorgung eines an chronischer Autoimmunthrombozytopenie (ICD-10 69.3) leidenden Kindes ist im Irak derzeit nicht gesichert."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, medizinische Versorgung, Autoimmunthrombozytopenie, Abschiebungshindernis, Kind, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

1. Die zugelassene und im Übrigen zulässige - weil frist- und formgerecht begründete (§ 124a Abs. 6 VwGO) - Berufung ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die zulässige Klage begründet, soweit sie auf die Gewährung von nationalem Abschiebungsschutz zugunsten des Klägers gerichtet ist. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 21. Juli 2016 ist, soweit er dem entgegensteht, rechtswidrig. [...]

In Fällen einer Erkrankung eher singulären Charakters - wie hier - sind die Voraussetzungen des genannten Abschiebungsverbots erfüllt, wenn sich die Krankheit des Betroffenen mangels (ausreichender) Behandlung im Abschiebungszielstaat verschlimmert und sich dadurch der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde; konkret ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung alsbald nach der Abschiebung des Betroffenen einträte (BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - 1 C 3/11 -, BVerwGE 142, 179-195, Rn. 34).

b. An diesem Maßstab gemessen besteht eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben des Klägers im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

aa. Der Kläger leidet seit seiner frühesten Jugend an einer chronischen Verlaufsform der Autoimmunthrombozytopenie (klassifiziert nach ICD-10 Code D 69.3 (https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2019/ , einer Erkrankung des körpereigenen Immunsystems, bei der es zu einem Mangel an Blutplättchen kommt. Aus den krankheitsbedingt immer wieder stark verminderten Thrombozytenwerten folgt eine extreme Blutungsneigung. Dergestalt aufgetretene Blutungen mit der Folge von Hämatomen und auch Nasenbluten erforderten vor der Therapie mit dem den Wirkstoff Elthrombopag enthaltenden Medikament Revolade immer wieder stationäre Krankenhausaufenthalte zur Gabe von Immunglobulinen zur kurzfristigen Anhebung der Thrombozytenzahl. [...]

Es sind wöchentliche Blutbildkontrollen erforderlich. Nach den - mit den anderen Arztberichten übereinstimmenden - Feststellungen des Universitätsklinikums ... ist der Kläger lebensnotwendig auf die tägliche Einnahme des Elthrombopag-Medikamentes angewiesen; eine Unterbrechung der Einnahme kann Blutungsereignisse mit potentiell schwerem Verlauf bis zum Exitus zur Folge haben. Entgegen der Auffassung der Beklagten sind die Feststellungen auch in Einzelaspekten nicht widersprüchlich, sie fügen sich zu einem Gesamtbild der gesundheitlichen Ausgangssituation des Klägers.

bb. Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aufgrund der dortigen Verhältnisse eine wesentliche Verschlimmerung seiner Erkrankung in einer Weise, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG führt. Die medizinische Versorgung des Klägers, insbesondere die Deckung seines Bedarfs mit den erforderlichen Medikamenten und die erforderliche medizinische Begleitung der Behandlung sind nicht gewährleistet.

Insgesamt ist die medizinische Versorgungssituation im Irak angespannt. In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Die große Zahl von Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen belastet das Gesundheitssystem zusätzlich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: März 2020).

Für die individuelle Situation des Klägers gilt dabei folgendes: Seine medizinische Versorgung in der hier als unbedingt notwendig erachteten Form ist im Irak nicht möglich. Auf Nachfrage des Senats im Rahmen des Beweisbeschlusses vom 11. November 2019 hat das Auswärtige Amt durch den Kooperationsarzt Dr. ..., tätig in Erbil, Irak, mit Auskunft vom 27. November 2019 mitgeteilt, dass die Behandlung des an chronischer Thrombozytopenie leidenden Klägers in seiner Herkunftsregion Sulaymania und Kirkuk und auch im restlichen Irak nicht gesichert ist. Weder das den Wirkstoff Elthrombopag enthaltende Medikament Revolade, noch Immunglobuline sind in der staatlichen Krankenversorgung verfügbar. Eine verlässliche Versorgung kann auch auf dem privaten Markt über Apotheken nicht sichergestellt werden (Auskunftschreiben vom 27. November 2019, S. 2).

Ist aber, wie übereinstimmend aus den ärztlichen Bestätigungen hervorgeht, die ununterbrochene, dauerhafte Versorgung mit dem Medikament für den Kläger zur Vermeidung der Blutungsgefahr lebensnotwendig, führt die nicht sicherzustellende Verfügbarkeit unabhängig von der Frage, ob der Kläger überhaupt die auf dem Markt verlangten Preise bezahlen könnte, zur Annahme einer wesentlichen, lebensbedrohlichen Verschlimmerung für den Fall der Rückkehr. [...]