OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.07.2020 - 3 M 129/20 - asyl.net: M28654
https://www.asyl.net/rsdb/M28654
Leitsatz:

Zur Erteilung der Ausbildungsduldung trotz verspäteter Identitätsklärung; keine Pflicht zur Mitwirkung an eigener Aufenthaltsbeendigung: 

1. Die Erteilung einer Ausbildungsduldung scheidet nach § 60c Abs. 2 Nr. 1 iVm § 60a Abs. 6 AufenthG aus, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen nicht vollzogen werden können, die die betroffene Person zu vertreten hat.

2. Scheitert die Abschiebung daran, dass es der Ausländerbehörde nicht gelingt, eine aufgrund der "Weigerungshaltung des Betroffenen" für erforderlich erachtete polizeiliche Begleitung zu organisieren, so hat die betroffene Person dies nicht zu vertreten. Es besteht grundsätzlich keine Pflicht, an der Aufenthaltsbeendigung mitzuwirken.

3. Es ist offen, ob die Erteilung einer Ausbildungsduldung im Ermessenswege nach § 60c Abs. 7 AufenthG auch möglich ist, wenn die betroffene Person die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung nicht rechtzeitig im Sinne des § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG ergriffen hat, sondern zu einem späteren Zeitpunkt.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung der Redaktion: Diese Entscheidung erging im Rahmen eines Prozesskostenhilfeantrags)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Ausschlussgrund, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Beurteilungszeitpunkt, Abschiebungsversuch, Selbstgestellung, Identitätsklärung, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Ermessen,
Normen: AufenthG 60c Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 60c Abs. 2 Nr. 3, AufenthG § 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 60c Abs. 7
Auszüge:

 [...]

14 Entgegen der Annahme des Beklagten dürfte kein Ausschlussgrund nach § 60c Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 60a Abs. 6 AufenthG vorliegen.

15 Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass bei dem Kläger aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen nicht vollzogen werden können, die er selbst zu vertreten hat (§ 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Ein solcher "Vollzug" aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf der Grundlage der mit Bescheid vom 15. Oktober 2014 durch das Bundesamt verfügten Abschiebungsanordnung betreffend Italien dürfte in der Vergangenheit ohne Zutun des Klägers ohne Weiteres möglich gewesen sein. Wie der Beklagte selbst mehrfach betont hat, ist eine Rückführung des Klägers nach Italien nicht wegen einer ungeklärten Identität des Klägers oder fehlender Reisedokumente gescheitert (vgl. insoweit auch § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG), sondern - wie es etwa im internen Schreiben vom 7. Januar 2019 heißt - "wegen der zutage getretenen Weigerungshaltung des Betroffenen". Der Beklagte hielt deshalb nach dem gescheiterten "Abschiebungsversuch" vom 8. März 2017 eine "Polizeibegleitung" für erforderlich, die zu organisieren ihm jedoch nicht gelang. Hierbei dürfte es sich nicht um einen vom Kläger zu vertretenden Umstand im Sinne des § 60a Abs. 6 Nr. 2 AufenthG handeln, sondern um einen Umstand, der in die Sphäre des Beklagten fällt. Auf die fehlende "Einwilligung" des Klägers in seine auf Initiative und Betreiben des Beklagten erfolgende Aufenthaltsbeendigung dürfte insoweit nicht abgestellt werden können. Der Kläger ist grundsätzlich nicht verpflichtet, an einer derartigen Aufenthaltsbeendigung mitzuwirken. Dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen "vollzogen" werden müssen, setzt gerade voraus, dass der Betroffene nicht bereit ist, freiwillig auszureisen. Wenn es der Ausländerbehörde nicht gelingt, diesen "Vollzug" zu organisieren, so dürfte dies daher nicht im Sinne des § 60a Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 AufenthG dem Ausländer anzulasten sein. Aus ähnlichen Erwägungen dürfte insoweit auch nicht relevant sein, dass der Kläger der Aufforderung aus dem Schreiben des Beklagten vom 9. Februar 2017 nicht nachkam, sich am 8. März 2017 zu seiner "Rückführung" nach Italien in der Ausländerbehörde einzufinden (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Februar 2020 - OVG 3 B 37.19 - juris Rn. 29).

16 Davon abgesehen erfordert der Ausschlussgrund des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG einen aktuellen Gegenwartsbezug; ein Verhalten, das den Vollzug ausschließlich in der Vergangenheit (kausal) verzögert oder behindert hat, ist unbeachtlich (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 10. Juli 2017 - 11 S 695/17 - juris Rn. 33; Kluth/Breidenbach, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 25. Ed., § 60a AufenthG Rn. 54). Im Fall des Klägers dürfte die von dem Beklagten erstrebte Aufenthaltsbeendigung mit dem Ziel Italien zwischenzeitlich jedoch aus anderen Gründen ausscheiden. So hat das Bundespolizeipräsidium den Beklagten auf vorheriges (erneutes) Amtshilfeersuchen vom 5. Februar 2019 bereits mit Schreiben vom 10. April 2019 mitgeteilt, dass die "Anbietung" des Klägers "in Italien nicht zielführend ist", weil die am 19. Dezember 2016 eingegangene Zustimmung Italiens zur Rückführung nur zwei Jahre gültig gewesen sei und ihre Gültigkeit demgemäß verloren habe. [...]

27 Gemäß § 60c Abs. 7 AufenthG kann eine Duldung nach § 60c Abs. 1 Satz 1 AufenthG unbeachtlich des § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erteilt werden, wenn der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat. Nach der Gesetzesbegründung will die Regelung (nur) den Fällen Rechnung tragen, in denen die Klärung der Identität nicht herbeigeführt werden konnte, obwohl der Ausländer alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat. In diesen Fällen besteht kein Anspruch auf Erteilung der Ausbildungsduldung, die Erteilung der Duldung ist aber im Ermessen der Ausländerbehörde möglich (BT-Drs. 19/8286, S. 16). Dies zugrunde gelegt, wäre § 60c Abs. 7 AufenthG so zu lesen, dass die Vorschrift ausschließlich an Maßnahmen zur Identitätsklärung anknüpft, die der Ausländer innerhalb der in seinem Fall einschlägigen Frist aus § 60c Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a bis c AufenthG vorgenommen hat, ohne dass jedoch der von § 60c Abs. 2 Nr. 3, letzter Hs. AufenthG vorausgesetzte Erfolg - die Identitätsklärung - nach Fristablauf eingetreten ist. Für dieses Verständnis der Vorschrift spricht auch der systematische Zusammenhang mit § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG, der in § 60c Abs. 7 AufenthG auch in der Wendung zum Ausdruck kommt "unbeachtlich des Absatzes 2 Nummer 3". Seinem Wortlaut nach ist § 60c Abs. 7 AufenthG demgegenüber gleichermaßen offen für eine Interpretation, nach der eine Erteilung der Ausbildungsduldung abweichend von § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG auch dann in Betracht kommt, wenn der Ausländer die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung nicht rechtzeitig im Sinne des § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG ergriffen hat, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. [...]