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VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 19.05.2020 - A 8 K 9604/17 - asyl.net: M28635
https://www.asyl.net/rsdb/M28635
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für afghanische Staatsangehörige wegen der Corona-Pandemie:

"Auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen des SARS-CoV-2-Virus auf die wirtschaftliche und humanitä­re Lage in Afghanistan begründen die derzeitigen Lebensumstände in Kabul keine Situation, in der für leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen des Abschiebungs­verbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können.

Das allgemeine Risiko, bei einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald an dem SARS-CoV-2-Virus zu erkranken und infolge fehlender Behandlungsmöglichkeiten daran zu sterben oder schwerste Gesundheits­beeinträchtigungen zu erleiden, begründet kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Rückkehrgefährdung, Existenzminimum, medizinische Versorgung, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

38 b. Ausgehend von den dargestellten Maßstäben und unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage gelangt das erkennende Gericht nicht zu der Überzeugung, dass im Falle des Klägers ein ganz außer - gewöhnlicher Fall vorliegt, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen. Denn die Lebensverhältnisse in Afghanistan, insbesondere in Kabul, begründen allgemein (aa.) - auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen durch die Corona-Pandemie (bb.) - keine beachtliche Wahrscheinlichkeit des erforderlichen sehr hohen Schädigungsniveaus und auch aus den persönlichen Umständen des Klägers ergibt sich nichts Abweichendes (cc.).

39 aa. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können. [...]

40 bb. Das erkennende Gericht vermag auch nicht festzustellen, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine abweichende Beurteilung geböten. [...]

42 Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen gelangt das erkennende Gericht nicht zu der Überzeugung, dass im Falle des Klägers die strengen Anforderungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind. Denn sein Schicksal im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan lässt sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit dahingehend prognostizieren, dass er bei einer Abschiebung nach Kabul in derart prekäre Lebensverhältnisse geriete, die seiner Rückführung zwingend entgegenstünden. [...]

51 b. Zum anderen lässt sich auch mit dem allgemeinen Risiko, bei einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald an dem SARS-CoV-2-Virus zu erkranken und infolge fehlender Behandlungsmöglichkeiten daran zu sterben, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Insoweit greift hier die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ein, wonach Gefahren, die der Bevölkerung im Zielland allgemein drohen, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind, mithin Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde gewährt wird. Insofern soll Raum für ausländerpolitische Entscheidungen sein, was die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann grundsätzlich sperrt, wenn solche Gefahren den einzelnen Ausländer zugleich in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen (vgl. zum Ganzen grundlegend: BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 - juris, Leitsatz Nr. 3 zu § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG; vgl. zur Einordnung des Risikos einer erstmaligen Malaria-Erkrankung im Zielstaat als allgemeine Gefahr: BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris, Rn. 20 a.E. m.w.N.). [...]

53 Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger noch im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Einreise nach Afghanistan mit hoher, nicht nur beachtlicher Wahrscheinlichkeit an dem SARS-CoV-2-Virus erkranken, einen schweren Krankheitsverlauf erleiden und infolgedessen - auch wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten - mit ebenfalls hoher Wahrscheinlichkeit in eine existenzielle Gesundheitsgefahr geraten könnte. Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft sind die Krankheitsverläufe bei mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten Personen unspezifisch, vielfältig und variieren stark - von symptomlosen Verläufen bis zu schweren Pneumonien mit Lungenversagen. Schwere Verläufe sind jedoch eher selten. Risikogruppen lassen sich nicht eindeutig bestimmen: Aufgrund der Vielfalt verschiedener potentiell prädisponierender Vorerkrankungen und ihrer Schweregrade (z. B. bereits bestehende Organschäden) sowie die Vielzahl anderer Einflussfaktoren (z. B. Alter, Geschlecht, Gewicht, bestimmte Verhaltensweisen, adäquate medikamentöse/therapeutische Einstellung) und deren individuelle Kombinationsmöglichkeiten ist die Komplexität einer Risiko-Einschätzung außerordentlich hoch und eine generelle Festlegung zur Einstufung in eine Risikogruppe nicht möglich (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText11; zuletzt abgerufen am 19.05.2020). Im Angesicht dieser Erkenntnisse zu dem neuartigen SARS-CoV-2- Virus besteht auch in Anbetracht dessen, dass die im Falle eines schweren Krankheitsverlaufs erforderliche medizinische Behandlung (insbesondere künstliche Beatmung) in Afghanistan nur in sehr eingeschränktem Maße zur Verfügung steht und auch die allgemeine humanitäre Situation (Zugang zu Wasser, Nahrung, Medikamenten) den Krankheitsverlauf erschweren könnte, nicht die notwendige hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger von einem schweren Krankheitsverlauf betroffen sein und infolgedessen mit ebenfalls hoher Wahrscheinlichkeit sterben oder doch zumindest schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen erleiden könnte. [...]