Bundesministerium des Innern

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Zitieren als:
Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 07.04.2020 - M3-21002/67#1 - asyl.net: M28583
https://www.asyl.net/rsdb/M28583
Leitsatz:

Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörige Eltern von deutschen Kindern bzw. Kindern mit EU-Staatsangehörigkeit.

(Zusammenfassung der Redaktion)

Schlagwörter: elterliche Sorge, Sorgerecht, Eltern-Kind-Verhältnis, Unionsrecht, Schutz von Ehe und Familie, sozial-familiäre Beziehung, familiäre Lebensgemeinschaft, EU-Staatsangehörige, Drittstaatsangehörige, Eltern, Sonstige Familienangehörige,
Normen: AEUV Art. 20, AEUV Art. 21
Auszüge:

[...]

1. Anwendungsbereich

Ein drittstaatsangehöriger Elternteil eines deutschen Kindes erhält in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Das nach der Rechtsprechung aus Art. 20 AEUV abgeleitete Aufenthaltsrecht sui generis ist demgegenüber nachrangig und erlangt nur Relevanz, wenn die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht vorliegen und auch keine sonstige Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz erteilt werden kann. Relevante Konstellationen dürften daher insofern insbesondere Fälle sein, in denen eine Aufenthaltserlaubnis wegen Nichterfüllung der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG oder wegen entgegenstehender Sicherheitsaspekte nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG versagt wurde (zur Abwägung der Sicherheitsinteressen siehe Punkt 3.).

Die bisher bekannte Praxis, in diesen Konstellationen eine Duldung nach § 60a AufenthG zu erteilen, bildet das aus Art. 20 AEUV abzuleitende Aufenthaltsrecht nicht hinreichend ab, da die Duldung gerade kein Aufenthaltsrecht begründet, sondern lediglich die Vollstreckung der Ausreisepflicht vorübergehend aussetzt.

Nach der Rechtsprechung kann "ausnahmsweise" oder "bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte", das heißt in Fällen eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen einem minderjährigen Deutschen zum drittstaatsangehörigen Elternteil (gemeint sind neben den Eltern gegebenenfalls auch andere Bezugspersonen, soweit zu diesen das geforderte Abhängigkeitsverhältnis besteht. Der Einfachheit halber wird im Rundschreiben der Terminus "Elternteil" verwendet, da dies der Regelfall ist) ein Aufenthaltsrecht sui generis aus Art. 20 AEUV entstehen, wenn die Versagung eines Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Elternteil dazu führen würde, dass das Kind faktisch gezwungen wäre, dem Drittstaatsangehörigen bei der Ausreise aus dem Unionsgebiet zu folgen und sich mit ihm ins außereuropäische Ausland zu begeben (BVerwG Urt. v. 12.07.2018 - 1 C 16.17, Rn. 35).

Dieses besondere Abhängigkeitsverhältnis besteht immer dann, wenn ein sog. de facto-Zwang des Kindes zur (Mit-)Ausreise des drittstaatsangehörigen Elternteils vorliegt. An die Prüfung sind hierbei aufgrund des Ausnahmecharakters des Aufenthaltsrechts sui generis aus Art. 20 AEUV hohe Maßstäbe anzulegen. Sie richtet sich nach dem rechtlichen, wirtschaftlichen oder affektiven Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kind und Elternteil, wobei bei der Abwägung der Umstände des Einzelfalls das Wohl des Kindes vorrangig zu erwägen ist (Art. 24 Abs. 2 GR-Charta), unter Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 7 GR-Charta).

Dabei anzuwendende Kriterien basieren auf dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union im Fall Zambrano (EuGH, Urt. v. 08.03.2011, C-35/09 - Zambrano) und der grundlegenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urt. v. 19.10.2004, C-200/02 - Zhu und Chen; EuGH, Urt. v. 13.09.2016, C-165/14 - Rendön Martin; EuGH, Urt. v. 10.05.2017, C-133/15 - Chavez-Vilchez; EuGH Urt. v. 08.05.2018, C-82/16 - KA; EuGH, Urt. v. 15.11.2011, C-256/11 - Dereci; EuGH, Urt. v. 08.11.2012, C-40/11 - lida).

2. Vorliegen eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, auf die sich das Bundesverwaltungsgericht bezieht, dient das Aufenthaltsrecht sui generis aus Art. 20 AEUV dem Schutz des Kernbestands der Unionsbürgerrechte. Begründet wird es nicht durch jede bestehende Eltern-Kind-Beziehung; erforderlich ist vielmehr ein besonderes rechtliches, wirtschaftliches oder affektives Abhängigkeitsverhältnis. Ob ein solches besonderes Abhängigkeitsverhältnis im Einzelfall vorliegt, ist anhand einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände zu beurteilen.

Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere das Kindesalter, die körperliche und emotionale Entwicklung des Kindes sowie der Grad der affektiven Bindung zum drittstaatsangehörigen Elternteil und erwartbare Auswirkungen der Trennung für das innere Gleichgewicht des Kindes. Gegen eine entsprechende rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Elternteil spricht etwa die Tatsache, dass das Kind mit dem anderen sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, das über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt und erwerbstätig sein kann. Andererseits kann auch in einer solchen Konstellation eine sehr große affektive Abhängigkeit zum drittstaatsangehörigen Elternteil bestehen, die dazu führt, dass bei einer Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für diesen sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe. [...]

4. Bescheinigung des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis

Das BVerwG hat mit Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 entschieden, dass in den Fällen des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV eine Bescheinigung über das Bestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis nach Art. 20 AEUV auszustellen ist. Da das Aufenthaltsrecht bei Vorliegen der Voraussetzungen automatisch entsteht, ist eine Bescheinigung rein deklaratorisch; mit der Bescheinigung wird lediglich das Vorliegen der Voraussetzungen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis aus Art. 20 AEUV belegt. Der Antragsteller muss sich jedoch darauf berufen und die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht sui generis nach Art. 20 AEUV darlegen, § 82 AufenthG. [...]

5. Rechtsfolgen

Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht sui generis aus Art. 20 AEUV entsteht kraft Gesetzes bei Erfüllung der Voraussetzungen und erlischt ebenso kraft Gesetzes bei Entfallen der Voraussetzungen. Die Erteilung und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, mit der das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV bescheinigt wird, ist daher lediglich deklaratorisch. Bei der Entscheidung über die Erteilung und die Verlängerung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis werden durch die Ausländerbehörden jedoch zugleich die materiellen Voraussetzungen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis aus Art. 20 AEUV geprüft. [...]

Der EuGH hat entschieden, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 20 AEUV auch eine Arbeitserlaubnis nicht verweigert werden darf. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass der drittstaatsangehörige Elternteil nicht über die für seinen Unterhalt und den seiner Angehörigen erforderlichen Mittel verfüge, was ebenfalls zur Folge haben könnte, dass sich sein Unionsbürgerkind gezwungen sehen könnte, das Unionsgebiet zu verlassen (vgl. EuGH, Urt. v. 08.03.2011, C-34/09 - Zambrano, Rn. 44). [...]

II. Drittstaatsangehöriger Elternteil eines Kindes mit der Staatsangehörigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaates: Unionsrechtliches Aufenthaltsrechts sui generis aus Art. 20, 21 AEUV (vgl. EuGH. Urt, v. 12.03.2014, C-456/12 - O. und B., juris, Rn. 44 ff.; EuGH, Urt. v. 10.05.2017, C133/15 - Chavez-Vilchez u.a., juris, Rn. 54; EuGH, Urt. v. 14.11.2017, C-165/16 - Lounes, juris, Rn. 45 ff.; EuGH, Urt. v. 05.06.2018, C-673/16 - Coman, juris, Rn. 23 f.; EuGH, Urt. v. 27.06.2018, C-230/17 - Altiner u. Ravn, juris, Rn. 27 m.w.N.)

Die unter I. dargestellten Maßgaben haben auch Auswirkungen auf Konstellationen, in denen ein drittstaatsangehöriger Elternteil mit einem Kind in Deutschland lebt, das Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaates ist. Ein aus Art. 20, 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugunsten des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers kann bestehen, wenn es erforderlich ist, damit der Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit wirksam ausüben kann.

Auch hier ist für den drittstaatsangehörigen Elternteil vorrangig ein Aufenthaltsrecht aus Freizügigkeitsgesetz/EU oder Aufenthaltsgesetz zu prüfen (sh. auch unten IV.).

Dabei ist zu beachten, dass ein in Deutschland aufhältiges Unionsbürgerkind, das sein Freizügigkeitsrecht selbst nur als Familienangehöriger von einem Unionsbürgerelternteil ableitet (sh. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU), keinem drittstaatsangehörigen Elternteil ein Freizügigkeitsrecht nach FreizügG/EU vermitteln kann. Ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils wäre nur in der Sonderkonstellation denkbar, dass ein minderjähriger, nicht erwerbstätiger Unionsbürger die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU erfüllt, d.h. ihm ausreichender Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen, dieser zusätzlich seinem drittstaatsangehörigen Elternteil Unterhalt gewährt und der Elternteil selbst ebenfalls über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügt (sh. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 2, § 4 FreizügG/EU). [...]