VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 27.05.2020 - 19 K 93.19 A - asyl.net: M28545
https://www.asyl.net/rsdb/M28545
Leitsatz:

In Libyen herrscht ein landesweiter innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, aus dem sich für jede Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ergibt.

Dies gilt insbesondere für die Kläger, die als medizinisches Personal sowie als Familie mit kleinen Kindern zu vulnerablen Gruppen gehören.

Interner Schutz kommt wegen der landesweiten Gefährdungslage, wegen der schlechten humanitären Situation und wegen der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten nicht in Betracht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Libyen, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, besonders schutzbedürftig, subsidiärer Schutz, Berufsgruppe, medizinische Berufe, Kind, Kinder, extreme Gefahrenlage, willkürliche Gewalt,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

19 2. Die Klage ist begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. [...]

23 Nach der Überzeugung des Gerichts herrscht in Libyen derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt (dazu a)), aus welchem sich für die Kläger eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ergibt (dazu b)). Die Kläger können nicht auf internen Schutz verwiesen werden (dazu c)). [...]

26 b) Der bewaffnete Konflikt stellt nach der Überzeugung des Gerichts für die Kläger auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens bzw. ihrer Unversehrtheit dar. [...]

37 (1) Unter Würdigung der im Folgenden ausgeführten Erkenntnisse ist die Kammer der Überzeugung, dass – auch wenn konkrete Zahlen nicht zu ermitteln sind – die Wahrscheinlichkeit, in Libyen Opfer willkürlicher konfliktbedingter Gewalt zu werden, die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene Erheblichkeitsschwelle deutlich übersteigt. Denn bei den zugrundeliegenden Opferzahlen sind zu berücksichtigen: eine aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft der genannten Zahlen zu veranschlagenden Dunkelziffer (dazu (a)) sowie die hohe Gefahr, Opfer von Landminen (dazu (b)) oder anderer Übergriffe der Milizen zu werden (dazu (c)), was für die Zivilbevölkerung ein Ausweichen in ruhigere Landesteile – sofern es diese überhaupt gibt (vgl. unten c)) – zudem stark einschränkt. Zudem spricht vieles dafür, auch gravierende psychische Verletzungen in die Betrachtung mit einzubeziehen (dazu (d)). [...]

47 (c) Schon nach dem bisher Gesagten ist festzustellen, dass in Libyen ein bewaffneter Konflikt herrscht, der für Zivilpersonen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG erfüllt. Darüber hinaus liegen bei den Klägern gleich mehrere gefahrerhöhende Merkmale vor, die jedenfalls für diese zum Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts führen. Bei den Klägern handelt es sich um eine Familie mit kleinen Kindern, zudem arbeitete der Kläger zu 1. als medizinischer Operationsassistent und die Klägerin zu 2. als Krankenschwester. Medizinisches Personal ist typischerweise von bewaffneten Konflikten besonders betroffen, weil es sich von Berufs wegen in unmittelbarer Nähe zu den bewaffneten Kämpfen aufhält (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011, a.a.O., juris Rn. 18) bzw. im Konfliktfall nicht ohne Weiteres den Standort wechseln kann. Im Falle Libyens kommt hinzu, dass Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal zudem häufig gezielt angegriffen werden (vgl. ausführlich oben, b) (a)), weswegen auch UNHCR medizinisches Personal ausdrücklich als besonders gefährdete Gruppe einstuft (vgl. UNHCR, Returns to Libya, Rn. 8 und 35; s.a. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Security and Humanitarian Situation, Libya, Rn. 8.1.2).

48 Eine besondere Vulnerabilität ergibt sich auch aus der Tatsache, dass es sich bei den Klägern um eine Familie mit drei kleinen Kindern handelt, was es ihnen deutlich erschwert, bei aufflammender Gewalt ihren Wohnort zu verlassen. Im Übrigen gelten Kinder in Libyen als besonders vulnerabel. So führt UNHCR aus, Kinder seien überproportional stark von Konflikt und Gewalt betroffen. Ihnen drohe sexuelle und genderbasierte Gewalt, häusliche Gewalt, Rekrutierung, Entführung, Folter und vergleichbare Behandlung sowie Tötung im Rahmen willkürlicher bewaffneter Gewalt sowie durch explosive Kampfmittelrückstände, zumal Schulen häufig Ziel von Angriffen würden (vgl. UNHCR, Returns to Libya, Rn. 11; s.a. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Security and Humanitarian Situation, Libya, Rn. 2.3.8).

49 c) Interner Schutz steht den Klägern nach der Überzeugung der Kammer nicht zur Verfügung. [...]

50 Wie ausgeführt, besteht die dargestellte Gefahrenlage landesweit (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 12). [...]

51 Selbst wenn man entgegen dem Vorstehenden davon ausgehen wollte, dass es Landesteile gibt, in denen die Gefahr, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, unterhalb der Erheblichkeitsschwelle liegt, so fehlt es nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen an den Voraussetzungen, diesen Schutz tatsächlich in Anspruch nehmen zu können. Zunächst ist nicht ersichtlich, dass Personen aus Kriegsgebieten überhaupt in vermeintlich sichere Landesteile reisen können. Die libyschen Flughäfen stehen unter Kontrolle verschiedener Milizen und es ist davon auszugehen, dass zurückkehrende Libyer Aufmerksamkeit und ggf. Misstrauen erwecken und bei der Einreise strengen Kontrollen unterzogen werden, wobei eine anschließende Inhaftierung insbesondere am Flughafen Mitiga (Tripolis) nicht auszuschließen ist. Die Hauptstraßen des Landes, einschließlich des Küstenstraßenabschnitts von Tunesien nach Ägypten, weisen hohe Kriminalitätsraten und Kontrollpunkte auf, die teilweise von irregulären bewaffneten Gruppen kontrolliert werden. Jede Reisebewegung auf dem Landweg stellt ein sehr hohes Risiko dar. Es besteht landesweit ein sehr hohes Risiko, Opfer von Entführungen und willkürlicher Inhaftierung durch lokale Milizen zu werden; zudem ist in den meisten Gebieten ein Anstieg der Kriminalität zu verzeichnen. Die geringe Präsenz von Sicherheitskräften in ländlichen Gebieten, insbesondere im Süden des Landes, hat die Bildung krimineller und terroristischer Gruppen gefördert (vgl. zu alledem und m.w.N. BfA, Länderinformationsblatt, S. 2, 5 f., 15; s.a. UKUT, Urteil vom 28 Juni 2017, a.a.O., Rn. 93 ff.). Die beschriebene Lage spiegelt sich in der aktuellen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes wieder, der zufolge die Lage in weiten Teilen des Landes sehr unübersichtlich und unsicher ist, und landesweit die Gefahr, zum Opfer von bewaffneten Raubüberfällen und "car-jacking" zu werden, besteht (vgl. Auswärtiges Amt, Libyen: Reisewarnung, gültig ab 5. März 2020).

52 Unabhängig davon kann auch aufgrund der prekären humanitären Lage von Rückkehrern nicht vernünftigerweise erwartet werden (vgl. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG), sich in einem anderen Landesteil ohne substanzielle familiäre Unterstützung niederzulassen (s.a. VG Köln, Urteil vom 18. Februar 2020 – 6 K 7872/17.A –, juris Rn. 50 ff., welches aufgrund der humanitären Lage ein Abschiebungsverbot annimmt). Die Ausweitung der Kampfhandlungen in dicht bevölkerten Gebieten hat zu weiteren Vertreibungen und einer weiteren Verschärfung der humanitären Krise geführt; zu den libyschen Binnenvertriebenen kommen mehr als 636.000 Flüchtlinge und Migranten, die häufig ebenfalls von humanitärer Hilfe abhängig sind. [...]