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VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 03.06.2020 - 11 A 45/19 (Asylmagazin 8/2020, S. 277 ff.) - asyl.net: M28519
https://www.asyl.net/rsdb/M28519
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung in Bulgarien entfaltet ohne erneute materielle Prüfung Rechtswirkung in Deutschland:

1. Da Bulgarien nicht Vertragsstaat des EATRR (European Agreement on the Transfer of Responsibility for Refugees) ist, ist dieser europäische Vertrag auf eine bulgarische Flüchtlingsanerkennung nicht anwendbar.

2. Die Übernahme der Verantwortung geht jedoch nach Art. 28 GFK auf Deutschland über. Voraussetzung ist ein erlaubter Aufenthalt der betroffenen Person, der u.a. mit der Feststellung eines Abschiebungsverbots begründet werden kann. Ob die Einreise selbst erlaubt war, ist unerheblich.

3. Da die Erteilung des Flüchtlingsstatus rein deklaratorisch ist und sich die Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention auf einheitliche Voraussetzungen für eine Anerkennung geeinigt haben, besteht bei einer Anerkennung in Bulgarien kein Zweifel an der Flüchtlingseigenschaft.

4. Für die Zeit, in der Betroffenen der Aufenthalt in dem anderen Mitgliedsstaat unzumutbar ist, muss eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG sowie ein Reiseausweis für Flüchtlinge ausgestellt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Übergang der Verantwortung, Flüchtlingsanerkennung, Aufenthaltstitel, internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsverbot, Aufenthaltserlaubnis, deklaratorische Wirkung, Genfer Flüchtlingskonvention, Bulgarien, Flüchtlingseigenschaft, Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge,
Normen: GFK Art. 28, EATTR, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § , AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

18 Zuerst findet die Genfer Flüchtlingskonvention Anwendung. Zu den Vertragsstaaten gehören sowohl die Republik Bulgarien als auch die Bundesrepublik Deutschland.

19 Der Kläger kann sich auch unmittelbar auf die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention berufen, der die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG durch Bundesgesetz zugestimmt hat. Die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein Zustimmungsgesetz führt zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsnorm, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, dafür also keiner weiteren normativen Ausfüllung bedarf. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention einschließlich der Bestimmungen über den Reiseausweis für Flüchtlinge vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.06.1991 – 1 C 42/88 –, juris Rn. 13, 14 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.07.1992 – 13 S 2026/91 –, juris Rn. 22).

20 Weiterhin ist der Kläger auch Flüchtling im Sinne dieser Vorschrift. Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK bestimmt sich nach dem in Art. 1 GFK umschriebenen Flüchtlingsbegriff (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 – 1 C 21/87 –, juris Rn. 16). Nach Art. 1 A Nr. 1 GFK ist Flüchtling, wer in Anwendung der Verfassung der Internationalen Flüchtlingsorganisation als Flüchtling gilt. Danach wiederum führt bereits die formelle Anerkennung als Flüchtling zur Erfüllung dieser Eigenschaft. Denn eine Person wird nicht aufgrund der Anerkennung ein Flüchtling, sondern die Anerkennung erfolgt, weil die Person ein Flüchtling ist. Jedenfalls ist diese Voraussetzung gegeben, dem Kläger wurde der Flüchtlingsstatus ("refugee status") in Bulgarien zuerkannt.

21 Diese Anerkennung als Flüchtling entfaltet entgegen der Ansicht des Beklagten auch Rechtswirkung in der Bundesrepublik Deutschland. Einen in allen Vertragsstaaten wirksamen internationalen Flüchtlingsstatus hat die Genfer Flüchtlingskonvention zwar nicht geschaffen, sodass die Souveränität der Vertragsstaaten, selbst über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Einzelfall zu befinden, nicht in Frage gestellt wird, da jeder Vertragsstaat in eigener Verantwortung nach den Vorschriften der Konvention über die Flüchtlingseigenschaft zu entscheiden hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.06.1991 – 1 C 42/88 –, juris Rn. 21). Da jedoch die Erteilung des Flüchtlingsstatus rein deklaratorisch ist und sich die Vertragsstaaten in der Genfer Flüchtlingskonvention auf einheitliche Voraussetzungen der Anerkennung geeinigt haben, kann aufgrund der Anerkennung in Bulgarien kein Zweifel an der Flüchtlingseigenschaft bestehen.

22 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Bundesamt als zuständige Behörde der Bundesrepublik Deutschland sachlich nicht mehr über den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheidet, da ein solcher Antrag in Deutschland bereits unzulässig ist. Die Anerkennung des Klägers als Flüchtling in Bulgarien steht einer materiellen Prüfung durch das Bundesamt entgegen. Die Annahme des Flüchtlingsstatus aufgrund der bulgarischen Entscheidung greift nicht in die Zuständigkeit des Bundesamtes oder die Souveränität der Bundesrepublik ein, da insoweit ohnehin keine Überprüfung der Voraussetzungen zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgen kann.

23 Außerdem hält sich der Kläger auch rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Die Rechtmäßigkeit folgt zunächst nicht aus den Vorschriften des Übereinkommens. Bei dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16.10.1980 handelt es sich um ein Vertragswerk, das im Rahmen des Europarates vereinbart wurde und von der Bundesrepublik mit Gesetz vom 30.09.1994 ratifiziert wurde (BGBl. I 1994, 2645). Es ist kein Rechtsakt der Europäischen Union (Anmerkung von Dr. Berthold Huber zum Beschluss des OVG Bautzen vom 12.04.2016 – 3 B 7/16 –, NVwZ 2017, 244, 246). Da das Übereinkommen die Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention unberührt lässt, bleibt für die Vertragsstaaten des Übereinkommens der Wortlaut der Genfer Flüchtlingskonvention maßgeblich. Mit dem Übereinkommen haben sie sich allerdings auf eine gemeinsame Auslegung des Art. 28 GFK und des Anhanges zur Genfer Flüchtlingskonvention verständigt.

24 Im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien kann dieses Vertragswerk jedoch keine Anwendung finden. Nach Art. 1 Buchst. c) und d) EATRR ist das Übereinkommen nur auf die Vertragsstaaten anwendbar. Bulgarien ist indes kein Vertragsstaat, da Bulgarien das Übereinkommen weder unterzeichnet noch ratifiziert hat (https://www.coe.int/de/web/conventions/search-onstates/-/conventions/treaty/107/signatures?p_auth=ctEgMIFJ – Stand: 03.06.2020). Auch Art. 8 EATRR eröffnet nicht den Anwendungsbereich des Übereinkommens im Verhältnis zwischen Deutschland und Bulgarien.

25 Daher ist Art. 28 GFK unabhängig von dem Übereinkommen auszulegen. Die Übernahme der Verantwortung für einen Flüchtling ist nach Art. 28 GFK i.V.m. § 11 Anhang GFK nicht an eine bestimmte Frist geknüpft, sondern an den rechtmäßigen bzw. laut Konvention "erlaubten" Aufenthalt. Danach beinhaltet ein rechtmäßiger Aufenthalt im Hoheitsgebiet eine besondere Beziehung des Betroffenen zu dem Vertragsstaat durch eine mit dessen Zustimmung begründete Aufenthaltsverfestigung. Es genügt nicht die faktische Anwesenheit, selbst wenn sie dem Vertragsstaat bekannt ist und von diesem hingenommen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.06.1991 – 1 C 42/88 –, juris Rn. 36). In der Bundesrepublik Deutschland ist der Aufenthalt eines Ausländers grundsätzlich nur dann rechtmäßig, wenn er von der zuständigen Ausländerbehörde erlaubt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.06.1991 – 1 C 42/88 –, juris Rn. 37; vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.07.1992 – 13 S 2026/91 –, juris Rn. 33). Die bloße Anwesenheit des Ausländers, mag sie auch von der Behörde hingenommen werden, genügt nach deutschem Recht unabhängig von ihrer Dauer nicht für einen rechtmäßigen Aufenthalt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 02.08.2018 – 8 ME 42/18 –, juris Rn. 33; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.07.1992 – 13 S 2026/91 –, juris Rn. 33).

26 Nach diesen Maßstäben ist ein rechtmäßiger Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gegeben. Dem Kläger wurde eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ausgestellt, da zuvor ein Abschiebungsverbot nach Bulgarien festgestellt wurde. Diese Aufenthaltserlaubnis führt zur Rechtmäßigkeit des klägerischen Aufenthalts im Bundesgebiet. Es kommt hingegen nicht darauf an, ob der Kläger auf rechtmäßigem Wege in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Ausweislich des insoweit deutlichen Wortlautes von Art. 28 GFK und § 11 Anhang zur GFK kommt es allein auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes an. [...]

28 Weiterhin besteht auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

29 Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

30 Zwar hat nicht das Bundesamt selbst den Schutzstatus zuerkannt, was nach dem Wortlaut des Absatz 2 Satz 1 vorausgesetzt ist. Vor dem Hintergrund einer europarechtskonformen Auslegung ergibt sich jedoch, dass der Kläger für den Zeitraum, in dem ihm ein Aufenthalt in Bulgarien nicht zumutbar ist, in der Bundesrepublik eine gesicherte Rechtsstellung erhält und einem im Inland anerkannten Flüchtling gleichgestellt ist. Ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling hat zwar keinen Anspruch auf ein weiteres Anerkennungsverfahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat, wenn ihm die Rückkehr in den Mitgliedstaat, der ihn als Flüchtling anerkannt hat, unzumutbar ist (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 27.06.2017 – 1 C 26/16 –, juris Rn. 32). In diesem Fall räumt aber eine aufenthaltsrechtliche Lösung dem betroffenen Flüchtling die Rechte nach Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU in Deutschland ein (so wohl BVerwG, EuGH-Vorlage vom 27.06.2017 – 1 C 26/16 –, juris Rn. 34). Solange ihm eine Rückkehr in den Mitgliedstaat, der ihn als Flüchtling anerkannt hat, nicht zumutbar ist, muss seiner Rechtsstellung dadurch Rechnung getragen werden, dass der Betroffene im Aufenthaltsmitgliedstaat in unionsrechtskonformer Auslegung der nationalen aufenthalts- und sozialrechtlichen Rechtsvorschriften wie ein dort anerkannter Flüchtling zu behandeln ist (so wohl BVerwG, EuGH-Vorlage vom 27.06.2017 – 1 C 26/16 –, juris Rn. 35). Daraus folgt, dass der Kläger so zu stellen ist, als sei ihm seine Rechtsstellung als Flüchtling durch die Bundesrepublik Deutschland, also durch das Bundesamt, anerkannt worden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine solche erweiternde Auslegung der Norm auf Fallkonstellationen wie die hier vorliegende beschränkt bleibt, wenn der Aufenthalt in dem anderen Mitgliedsstaat, welcher die Flüchtlingseigenschaft anerkannt hat, unzumutbar ist. Diese Schutzgewährung ist zudem nur vorübergehend und zeitlich auf den Zeitraum beschränkt, in welchem der Aufenthalt im anderen Mitgliedsstaat nicht zumutbar ist. Dies erscheint auch vor dem Hintergrund der Erschaffung bzw. Aufrechterhaltung eines einheitlichen Asylraumes in Europa konsequent.

31 Damit sind Flüchtlinge, deren Status von einem anderen Konventionsstaat zuerkannt wurde, nicht von der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG ausgeschlossen (vgl. auch Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 25 AufenthG Rn. 15). Aus der außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zuerkannten Flüchtlingseigenschaft folgt zwar noch kein unmittelbares Aufenthaltsrecht im Inland, die Betroffenen sind aber jedenfalls dann den im Inland vom Bundesamt anerkannten Flüchtlingen aufenthaltsrechtlich gleichgestellt, wenn sie sich im Bundesgebiet rechtmäßig niedergelassen haben. Der Betroffene darf durch seine Übernahme nicht benachteiligt werden (vgl. Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 25 AufenthG Rn. 15). [...]