LSG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 11.05.2020 - L 9 AY 22/19 B ER - asyl.net: M28511
https://www.asyl.net/rsdb/M28511
Leitsatz:

Keine Leistungen der Regelbedarfsstufe 2 für alleinstehende Leistungsberechtigte in einer Gemeinschaftsunterkunft:

1. Für ein gemeinsames Wirtschaften Alleinstehender in einer Gemeinschaftsunterkunft trägt die Leistungsbehörde die Beweislast. Legt sie dazu nichts dar, besteht ein Anspruch auf Leistungen der Regelbedarfsstufe 1.

2. Da es sich um eine nicht unerhebliche Kürzung existenzsichernder Leistungen handelt, besteht auch eine Eilbedürftigkeit auf Durchsetzung des Anspruchs im Eilverfahren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, vorläufiger Rechtsschutz, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, alleinstehend, einstweilige Anordnung,
Normen: AsylbLG § 3a Abs. 1 Nr. 2b, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch begründet, da der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat, vgl. § 86b Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 ZPO. Der Antragsteller gehört unstreitig zu den Leistungsberechtigten, die Anspruch auf Leistungen nach §§ 3 ff. Asylbewerberleistungsgesetz haben. Der Senat teilt die bereits in Rechtsprechung und Kommentierung vertretene Auffassung, dass erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der vom Gesetzgeber in § 3a Asylbewerberleistungsgesetz geregelten neuen besonderen Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte bestehen, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind. Es bestehen erhebliche Bedenken, dass der Gesetzgeber die ihm vom Bundesverfassungsgericht aufgegebenen Vorgaben - vgl. Urteile vom 18. Juli 2012, 1 BvL 1010, 1 BvL 2/11 - zutreffend umgesetzt hat. Danach ist der Gesetzgeber zu einer transparenten und bedarfsgerechten Bemessung der Leistungssätze und deren Fortschreibung verpflichtet. Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssen in einem inhaltlich transparenten, sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, d.h. realitätsgerecht bemessen, begründet werden können.

Zwar ist dem Gesetzgeber dieses Anliegen ausweislich der ausführlichen Begründung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (vgl. Drucksache 19110052) durchaus bewusst gewesen, gleichwohl lässt die gesetzgeberische Begründung jegliche empirische Grundlagen zur Feststellung der tatsächlichen Bedarfe alleinstehender Erwachsener in Sammelunterkünften und ähnlichen Unterkünften vermissen. Der Gesetzgeber stellt schlicht die Behauptung auf, der Gedanke des gemeinsamen Wirtschaftens aus "einem Topf" für Paarhaushalte könne auch auf Leistungsberechtigte übertragen werden, die lediglich bestimmte Räumlichkeiten in Sammelunterkünften (wie Küche, Sanitär- und Aufenthaltsräume) gemeinsam nutzen. Für die behaupteten konkreten Synergieeffekte fehlt jedoch jeder Nachweis. Die gemeinsame Beschaffung von Lebensmitteln oder Küchengrundbedarf, sowie gemeinsames Kochen werden vom Gesetzgeber pauschal unterstellt. Insoweit ist auf die bereits vom Sozialgericht Hannover in seinem Beschluss vom 20. Dezember 2019 (S 53 AY 107/19) zitierte Stellungnahme des Deutschen Caritas-Verbandes zu verweisen, wonach aufgrund langjähriger Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit die Annahme eines derartigen Wirtschaftens Baus einem Topf lebensfremd sei. In der Regel sei eine derartige Solidarisierung in Massenunterkünften zwischen Fremden realitätsfern. Auch dem Senat erscheint nicht nachvollziehbar, warum Fremde, oftmals aus unterschiedlichen Herkunftsregionen und Kulturkreisen, ähnlich wie Paare gemeinsam wirtschaften sollten. Hier mag sich auch jeder selbst der Nächste sein. Zu Recht weist die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers auch darauf hin, dass völlig unklar ist, welche konkreten Leistungen die Mitbewohner überhaupt beziehen, ob sie zum Beispiel abgesenkte Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz beziehen oder Anspruchseinschränkungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz hinnehmen müssen. Die Annahme von Synergie- und Einspareffekten erscheint jedenfalls spekulativ und ist ausweislich der gesetzgeberischen Begründung durch keinerlei Erhebung belegt, so dass mangels realitätsabbildender, plausibler Belegung und Berechnung des Bedarfs den Anforderungen des Beschluss des Bundesverfassungsgerichts an eine ordnungsgemäße Bedarfsfestsetzung offensichtlich nicht Rechnung getragen wird.

Die Vorschrift des § 3a Abs. 1 Nr. 2 b Asylbewerberleistungsgesetz kann nur aufgrund verfassungskonformer Auslegung als mit dem Grundrecht auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz angesehen werden, wenn die Bedarfsstufe 2 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzt (vgl. bereits ähnliche Rechtsauffassung Frerichs, in juris PK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3a, Rz. 44; SG München, Beschluss vom 10. Februar 2020, S 42 AY 82/19 ER; SG Landshut, Beschluss vom 28. Januar 2020 - S 11 AY 3/20 ER; SG Hannover, Beschluss vom 20. Dezember 2019, S 53 AY 107/19). Wenn also Leistungsberechtigte tatsächlich mit anderen Personen in der Gemeinschaftsunterkunft zusammen wirtschaften in Gestalt gemeinsamer Einkäufe und Essenszubereitung, wodurch Synergie-Effekte durch geringe Kosten beim Einkauf der Lebensmittel etc. anfallen, so ist diese Bedarfsstufe einschlägig. Hierfür liegt allerdings nach den allgemeinen Beweisregeln die objektive Darlegungs- und Beweislast beim Leistungsträger. Für ein tatsächliches gemeinsames Wirtschaften des Antragstellers mit anderen Untergebrachten ist nichts ersichtlich und vom Antragsgegner auch nicht dargelegt.

Schließlich ist auch ein Anordnungsgrund zu bejahen. Grundsätzlich dürfen die Anforderungen an den Anordnungsgrund bei dieser existenzsichernden Leistung auf quasi allergeringstem Niveau der denkbaren Sozialleistungen der Bundesrepublik Deutschland übertrieben hoch angesetzt werden. Hier ist eine Dringlichkeit auch im Hinblick auf die erheblichen im Dezember 2019 zugeflossenen Nachzahlungen von insgesamt rund 1.000,00 € gleichwohl gegeben. Zum einen handelt es sich hierbei um dem Antragsteller über einen längeren Zeitraum vorenthalte Leistungen. Ein Nachholbedarf aufgrund dieser Bedarfsunterdeckung für einen nicht nur kurzen unerheblichen Zeitraum kann zugunsten des Antragstellers - auch ohne konkreten Vortrag - unterstellt werden. Zum anderen sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund hier gering zu bemessen, da der Senat den Anordnungsanspruch mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit als gegeben ansieht. [...]