OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 11.05.2020 - 13 MN 143/20 - asyl.net: M28478
https://www.asyl.net/rsdb/M28478
Leitsatz:

Eine generelle Quarantäne gegenüber Einreisenden, unabhängig von Anhaltspunkten für eine Erkrankung oder Infektion, ist unzulässig:

"1. Eine Quarantäne im Sinne des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann auch durch Rechtsverordnung nach § 32 IfSG nur gegenüber Kranken. Krankheitsverdächtigen, Ausscheidern oder Ansteckungsverdächtigen angeordnet werden.

2. Die Annahme eines Ansteckungsverdachts muss auf konkret nachvollziehbare und belastbare tatsächliche Grundlagen gestützt werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Quarantäne, Corona-Virus, Einreise, Normenkontrollverfahren, Weisung, Niedersachsen, Verhältnismäßigkeit, Rechtsgrundlage,
Normen: VwGO § 47 Abs. 6, IfSG § 2 Nr. 7, IfSG § 30 Abs. 1 S. 2, IfSG § 32,
Auszüge:

[...]

20 a. Der Regelung des § 5 der (5.) Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vom 8. Mai 2020 fehlt es an der erforderlichen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.

21 Einzig in Betracht kommende und in der Verordnung auch genannte Rechtsgrundlage für den Erlass dieser Regelung ist § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 30 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) mit Wirkung vom 28. März 2020 geänderten Fassung.

22 Gemäß § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden.

23 Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden. § 30 Abs. 2 bis 7 IfSG befassen sich mit den Einzelheiten der Durchführung der Quarantäne.

24 Aus § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ergibt sich mithin, dass nur Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider Quarantänemaßnahmen unterzogen werden dürfen. Diese Adressatenkreise sind in § 2 Nr. 4 bis Nr. 7 IfSG legaldefiniert. Danach ist Kranker eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, Krankheitsverdächtiger eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen, und Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. Ansteckungsverdächtiger ist schließlich eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Aufnahme von Krankheitserregern im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts "anzunehmen", wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte. Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss nahe liegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Annahme eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist (anders die abweichende Formulierung in § 1 Abs. 2 Nr. 7 des Tierseuchengesetzes - TierSG - zur Legaldefinition des ansteckungsverdächtigen Tieres). Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme "geradezu aufdrängt". Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, juris Rn. 31 m.w.N.).

25 Für die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckungsgefahr gilt allerdings kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Es ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§§ 1 Abs. 1, 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt. Das Beispiel zeigt, dass es sachgerecht ist, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, "flexiblen" Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012, a.a.O., Rn. 32 m.w.N.).

26 Ob gemessen daran ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen ist, beurteilt sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit. Es ist erforderlich, dass das zugrundeliegende Erkenntnismaterial belastbar und auf den konkreten Fall bezogen ist. Die Feststellung eines Ansteckungsverdachts setzt voraus, dass die Behörde zuvor Ermittlungen zu infektionsrelevanten Kontakten des Betroffenen angestellt hat; denn ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012, a.a.O., Rn. 33). Allerdings hat der Gesetzgeber in § 32 Satz 1 IfSG den Erlass von Rechtsverordnungen und damit von abstrakt-generellen Regelungen vorgesehen. Eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Ermittlungstätigkeit kann vom Verordnungsgeber infolgedessen nicht erwartet werden. Wohl aber hat er seine Regelungen, die nur "unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind", erlassen werden können, auf konkret nachvollziehbare und belastbare tatsächliche Grundlagen zu stützen. Das ist hier jedoch nicht geschehen.

27 Es wurden zwar weltweit zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt. Die Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (anfangs 2019-nCoV) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit in 215 Ländern mehr als 4 Millionen Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 278.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 11.5.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet fast 170.000 Menschen infiziert und mehr als 7.400 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 10.800 Menschen infiziert und nahezu 500 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/ InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 11.5.2020). [...]

30 Die so beschriebene Ansteckungsgefahr mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 sowie der Charakter und der Verlauf der Erkrankung COVID-19 rechtfertigen die Quarantäneregelung in § 5 der Verordnung nicht. Der Antragsgegner führt zur Begründung der grundsätzlich alle nach Deutschland Ein- und Rückreisenden treffenden Quarantäneanordnung aus, eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Reiseländern sei nicht geboten. Aufgrund der globalen Verbreitung des Corona-Virus seien alle Einreisenden zugleich Krankheitsverdächtige und Ansteckungsverdächtige. Auch das Robert Koch-Institut weise deshalb keine besonderen Risikogebiete mehr aus.

31 Dieses Vorgehen wird dem tatsächlichen Infektionsgeschehen und auch den durchaus unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen Ländern Europas und der übrigen Welt nicht gerecht. So gibt es durchaus Länder, in denen die Infektionsrate und/oder auch Sterberate derzeit deutlich unter der im Bundesgebiet liegt. Der Antragsteller selbst hat für die Region Südschwedens, in der sich seine Immobilie befindet, eine geringere Infektionsrate angegeben als für den Landkreis Harburg, in dem er seinen ersten Wohnsitz hat. Einzelne Länder oder Regionen, in denen tatsächlich ein deutlich erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht, werden in § 5 der Verordnung bewusst nicht genannt. Aber auch die Gesamtzahl der weltweit ermittelten Infizierten stützt die pauschale Einordnung der aus dem Ausland Einreisenden als Ansteckungs- oder Krankheitsverdächtige nicht. Setzt man die Zahl der derzeit weltweit bestätigten Infektionsfälle von mehr als 4 Millionen in Relation zur derzeitigen Zahl der Weltbevölkerung von fast 7,8 Mrd. Menschen, so reicht die Zahl der Infizierten selbst bei Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer aufgrund der teilweise symptomlos erfolgenden Erkrankung zur unterschiedslosen Kategorisierung aller nach Deutschland Einreisenden als Ansteckungs- oder Krankheitsverdächtige nach keiner vertretbaren Betrachtungsweise aus. [...]

32 Der Hinweis auf die weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes überzeugt ebenfalls nicht, ist diese doch mit anderer Zielrichtung ausgesprochen worden und kann nicht Rechtsgrundlage für eine die Freiheit beschränkende Quarantänemaßnahme sein. Das Auswärtige Amt warnt vor nicht notwendigen touristischen Reisen ins Ausland, da weiterhin mit drastischen Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr, weltweiten Einreisebeschränkungen, Quarantänemaßnahmen und der Einschränkung des öffentlichen Lebens in vielen Ländern zu rechnen sei. Das Risiko, die Rückreise aufgrund der zunehmenden Einschränkungen nicht mehr antreten zu können, sei in vielen Destinationen derzeit hoch. (vgl. www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/10.2.8Reisewarnungen, Stand: 28.4.2020). Vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus wird bezeichnenderweise nicht gewarnt. [...]