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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 26.05.2020 - 13 K 4220/16.A, ähnlich: 13 K 4250/16.A - asyl.net: M28465
https://www.asyl.net/rsdb/M28465
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Familie mit minderjährigen Kindern auch wegen Auswirkungen der Corona-Pandemie in Afghanistan:

1. Eine Familie mit mehreren minderjährigen Kindern ist infolge der weiteren Verschlechterung der humanitären Lage in Afghanistan durch die Corona-Pandemie nicht in der Lage, ohne tragfähiges Netzwerk für sich eine Existenzgrundlage zu schaffen.

2. Die voraussichtlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Wirtschaft Afghanistans werden insbesondere diejenigen treffen, die ohnehin schon in prekären Verhältnissen leben, wie z.B. Tagelöhner und ihre Familien.

(Leitsätze der Redaktion; ähnlich VG Potsdam, Urteil vom 18.05.2020 - 13 K 4250/16.A)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, humanitäre Gründe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die humanitäre Lage in Afghanistan ist für eine fünfköpfige Familie mit Kindern im Alter zwischen sechs und elf Jahren, die in Afghanistan - wie in der mündlichen Verhandlung am 26. Mai 2020 dargelegt - inzwischen über gar kein belastbares familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan mehr verfügt, derart schlecht, dass von einer Abschiebung zwingend abzusehen wäre. Die von den Klägern im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu erwartenden Lebensbedingungen und die daraus resultierende Gefährdungslage weisen eine solche Intensität auf, dass von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen wäre.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden im Jahr 2019 eine halbe Million afghanischer Staatsangehöriger aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückgeführt, davon mehr als 476.000 allein aus dem Iran. Auch aus Europa wurden Tausende afghanische Asylsuchende abgeschoben, entweder auf der Grundlage des Abkommens Gemeinsamer Weg vorwärts in Migrationsangelegenheiten mit der Europäischen Union oder bilateraler Abkommen mit der afghanischen Regierung. Außerdem hat die türkische Regierung bis September 2019 etwa 19.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben (Amnesty International Report Afghanistan 2019). Seit Jahresbeginn hat sich die Lage zusätzlich durch die COVID-19-Pandemie verschärft. Aus den "Briefing-Notes" des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2020 ergibt sich zu den Auswirkungen dieser Pandemie für Afghanistan folgendes:

"Die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle steigt weiterhin an. Positiv getestete Personen werden aus allen 34 Provinzen gemeldet. Kabul liegt inzwischen nach der Anzahl der Fälle vor Herat gefolgt von Kandahar. Es wird erwartet, dass die Zahl der Fälle in den kommenden Wochen rapide ansteigen wird und dass sich schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft ergeben werden. Die Grenzen zu Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sind weiterhin nur für den Warenverkehr und für zurückkehrende afghanische Staatsangehörige passierbar. Pakistan hat die Grenzen für den Personenverkehr geschlossen und erlaubt an drei Tagen in der Woche den Transport von Hilfsgütern über die Grenzübergänge Torkham und Chaman. Reise- und Ausgangsbeschränkungen gelten weiterhin in Kabul und anderen Städten. 20 Provinzen (Stand 22.04.20) haben "angemessene Beschränkungen" (measured lockdowns) erlassen. Da es keine einheitliche nationale Regelung gibt, wird die Tätigkeit von Hilfsorganisationen erschwert. Der andauernde Konflikt … sowie Naturkatastrophen führen weiterhin dazu, dass Menschen ihre Heimatorte verlassen, wodurch die Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus steigt. Humanitäre Organisationen befürchten die negativen Auswirkungen der Beschränkungen auf ohnehin gefährdete Personengruppen, insbesondere Familien, die auf Tätigkeiten als Tagelöhner angewiesen sind und über keine alternativen Einkommensquellen verfügen. Da sich in der Öffentlichkeit die Angst vor COVID-19 ausbreitet, besteht darüber hinaus nach Auffassung von Menschenrechtsorganisationen die Gefahr einer Stigmatisierung und Diskriminierung von Erkrankten und von Personen, die kürzlich aus den Nachbarländern zurückgekehrt sind. Laut Arbeitsministerium sollen aufgrund der COVID-19-Pandemie zwei Millionen Menschen arbeitslos geworden sein".

Unter diesen - im Vergleich zu den 2015/2016 bestehenden Rahmenbedingungen sich nunmehr auch noch zunehmend verschlechternden - Umständen erscheint es der Kammer schlechterdings ausgeschlossen, dass die Kläger in der Lage sein könnten, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. [...]