VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 05.03.2020 - 3 K 2341/19.F.A - asyl.net: M28435
https://www.asyl.net/rsdb/M28435
Leitsatz:

Kein internationaler Schutz für homosexuellen Schutzsuchenden aus Algerien:

1. Homosexuelle Handlungen sind in Algerien nach Art. 338 und Art. 333 des Strafgesetzbuch strafbar. Dennoch ist grundsätzlich nicht von einer staatlichen Verfolgung homosexueller Personen auszugehen, da die entsprechenden Vorschriften in der Praxis nicht angewendet werden und es nicht zu Verurteilungen kommt.

2. Eine HIV-Infektion ist in Algerien behandelbar.

(Leitsätze der Redaktion; weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Algerien, homosexuell, interne Fluchtalternative, HIV/AIDS, medizinische Versorgung, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Diskriminierung, LSBTI,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger homosexuell ist. [...]

Homosexuelle Handlungen sind in Algerien nach Art. 338 des Strafgesetzbuchs strafbar. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezug zur Homosexualität vor (AA – Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25.06.2019, Stand: Mai 2019 – Seite 14). Das Bestehen strafrechtliche Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle treffen, erlaubt bereits die Feststellung, dass Homosexuelle in Algerien eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 – C-199/12 u.a. – juris RdNr. 49). Allerdings kann das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, nicht bereits als Maßnahme betrachtet werden, die den Kläger in so erheblicher Weise beeinträchtigen, dass der Grad an Schwere erreicht ist, der erforderlich ist, um diese Strafbarkeit als Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG anzusehen (vgl. EuGH, a.a.O. RdNr. 55). Deshalb wäre eine staatliche Verfolgung im vorliegenden Fall nur anzunehmen, wenn die die Homosexualität in Algerien unter Strafe stellenden Rechtsvorschriften angewendet und die dort vorgesehenen Freiheitsstrafen in der Praxis tatsächlich verhängt werden würden.

Dies lässt sich jedoch zur Überzeugung des Gerichts nicht feststellen. Die vom Kläger in Bezug genommenen Entscheidungen des VG Cottbus vom 04.10.2017 (5 K 1908/16.A – Juris RdNr. 29) und des VG Karlsruhe (Urteil vom 14.08.2018 – A 1 K 6549/16 – dort Bl. 15 UA) gehen beide unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) vom 23. und 24. September 2015 davon aus, dass, obwohl nach dem algerischen Strafgesetzbesuch homosexuelle Handlungen illegal sind, sich die Behörden nicht darum bemühen, homosexuelle Männer anzuklagen und es deshalb kein "real risk" einer Anklage gibt, selbst wenn die Behörden von solchen Verhalten erfahren. In den wenigen Fällen, in denen Anklage wegen homosexuellen Verhalten zustande kamen, gab es ein zusätzliches Merkmal, welches die Anklage verursacht hatte. Der Staat verfolge nicht aktiv homosexuelle Männer, um irgendeine Verfolgungshandlung gegen sie vorzunehmen, sei es durch Anklage oder durch andere Formen von Schlechtbehandlung im Rahmen einer Verfolgung. Dieser Einschätzung schließt sich das erkennende Gericht an. [...]

15 Auch eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ist nicht hinreichend wahrscheinlich. Soweit der Kläger auf die Erpressung durch seinen Arbeitskollegen ... und die Probleme mit seinem Vater und seinem Bruder verweist, teilt das erkennende Gericht die Einschätzung des Bundesamtes, dass es dem Kläger möglich und zumutbar ist, einen anderen Ort als seinen Heimatort aufzusuchen, weil ihm dort interner Schutz im Sinne des § 3d AsylG zur Verfügung steht. Insofern ergibt sich aus der Auskunft des Home Office (Country Policy und Information Note – Algeria: Sexual orientation and gender identity vom September 2017), auf die sich das vom Kläger in Bezug genommene Urteil des VG Karlsruhe vom 14. August 2018 bezieht, dass es in Algerien keine besonderen Schwierigkeiten gibt, die einen Umzug verhindern könnten und dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass Homosexualität missbilligende Familienmitglieder die Möglichkeiten haben, nach dem Umzug Schwierigkeiten zu bereiten (Home Office a.a.O. – Seite 8 (2.2.3), Seite 10 (3.1.8)). [...]

20 Das erkennende Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien keine Schwierigkeiten haben dürfte, weiterhin Sexualpartner zu finden und zu treffen, ohne Verfolgung befürchten zu müssen. An diesen vom Kläger geschilderten Treffpunkten dürfte es dem Kläger auch möglich sein, den jeweiligen Partner zu umarmen und auch zu küssen.

21 Dass es dem Kläger nach seinen Angaben nicht möglich ist, nach einer Rückkehr nach Algerien einen männlichen Partner in der Öffentlichkeit zu umarmen, ihn zu küssen und mit ihm Hand in Hand spazieren zu gehen, bewegt sich zur Überzeugung des Gerichts unterhalb dessen, was flüchtlingsrechtlich relevant ist. Der Verzicht auf Umarmungen und Küsse in der Öffentlichkeit macht das Leben des Klägers zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Algerien nicht unerträglich im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung. Die entsprechende Überzeugung des Gerichts beruht insbesondere darauf, dass der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt das Fehlen dieser Möglichkeiten – umarmen, küssen bzw. Händchen halten in der Öffentlichkeit – als auch das Fehlen eines Lebensgefährten nicht als fluchtauslösend geschildert hatte. Fluchtauslösend war vielmehr die vom Kläger behauptete Erpressung durch seinen Arbeitskollegen ... und die daraus resultierende vom Kläger behaupteten Probleme am Arbeitsplatz und mit seiner Familie. [...]