VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 31.01.2020 - 1 A 592/17 HAL - asyl.net: M28407
https://www.asyl.net/rsdb/M28407
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum:

Konvertiert eine Person vom Islam zum Christentum, so droht ihr in Afghanistan schon allein aufgrund der Taufe schwere körperliche Gewalt bis hin zur Tötung durch nichtstaatliche Akteur*innen. In der Folge ist unabhängig von der individuellen Glaubensüberzeugung von einer asylrelevanten Verfolgung aus religiösen Gründen auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Konvertiten, Apostasie, Taufe, religiöse Verfolgung, Religionszugehörigkeit, Religionsgemeinschaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger konnte zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts glaubhaft darlegen, dass ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung aus religiösen Gründen im Sinne von §§ 3 Abs. 1, § 3b Nr. AsylG droht. Der Kläger ist am ... 2019 in der ... Gemeinde Halle getauft worden. Dies haben muslimische Landsleute in Halle mitbekommen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Taufe auch in Afghanistan bekannt ist. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Umstände.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger bereits aufgrund der Taufe eine Abkehr vom islamischen Glauben in Afghanistan vorgehalten wird und ihm deshalb aus religiösen Gründen i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Falle seiner Abschiebung oder Einreise nach Afghanistan Verfolgungshandlungen i.S. des § 3a Abs. 1 AsylG jedenfalls durch nichtstaatliche Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG) drohen. Darüber hinaus ist das Gericht aber auch davon überzeugt, dass der Glaubenswechsel des Klägers aufgrund einer ernsthaften, inneren Überzeugung beruht.

Die Erkenntnismittel, welche dem Gericht vorliegen, führen zu der Gewissheit, dass Konvertierte in Afghanistan der Gefahr ausgesetzt sind, in diesem Sinne verfolgt zu werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie ihren Abfall in irgendeiner Form nach außen tragen oder ihnen ein Abfall vom Islam aufgrund ihrer Lebensweise zugeschrieben wird. [...]

Nach der informatorischen Befragung des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass es ein unverzichtbarer Bestandteil der religiösen Identität des Klägers geworden ist, den Glauben nicht zu verheimlichen, sondern ihn gemeinsam mit anderen auszuüben, insbesondere an Gottesdiensten teilzunehmen, sich mit der Bibel und den christlichen Glaubensinhalten zu beschäftigen und über den Glauben mit anderen zu sprechen. So hat der Kläger glaubhaft darlegen können, dass die Teilnahme an sonntäglichen Gottesdiensten und an Bibelkreisen für ihn unverzichtbarer Bestandteil seines christlichen Lebens geworden ist. Darüber hinaus hat der Kläger - im Rahmen seiner intellektuellen Möglichkeit - darlegen können, mit zentralen Inhalten des christlichen Glaubens vertraut zu sein und dass er weiterhin in der Öffentlichkeit Bekenntnis über seinen Glauben ablegen möchte. So wird er im Frühjahr dieses Jahres als Vertreter der Gemeinde zur Jugendsynode nach Erfurt fahren. Der Kläger offenbarte weiter konkrete wesentliche Glaubensinhalte und Glaubenskenntnisse, die seine Ernsthaftigkeit, Mitglied einer christlichen Gemeinschaft zu sein, belegen. Der Kläger hat sich zudem bewusst diese Kirchengemeinde ausgesucht, in der persisch sprechende Gemeindemitglieder aktiv sind, da er nur so die Möglichkeit gesehen hat, sich intensiv mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen. Das Vorbringen des Klägers war im Übrigen substantiiert und von Ernsthaftigkeit geprägt. Der Kläger hat für das Gericht hinreichend deutlich gemacht, dass es sich bei seiner Hinwendung zum Christentum um eine Gewissensentscheidung handelt und sie nicht von asyltaktischen Erwägungen geleitet ist. Trotz oder auch gerade wegen seiner schwerwiegenden Erkrankungen findet er in der Regel jede Woche den Weg in seine Kirchengemeinde.

Mit den hier in Deutschland gezeigten und in Afghanistan bekannten Verhaltensweisen und religiösen Überzeugungen würde der Kläger in der ausschließlich muslimisch geprägten Gesellschaft Afghanistans unweigerlich auffallen und landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sein. Im Übrigen reicht es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht vor einer Verfolgung begründet ist, aus, wenn dem Ausländer die religiösen Merkmale, die zur Verfolgung führen, zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies ist hier nach der Überzeugung des Gerichts der Fall, da die Akteure im Sinne von § 3c AsylG allein aus dem Umstand der öffentlichen Taufe auf einen Abfall vom Islam schließen werden. Afghanistan ist im Laufe der Konflikte der letzten Jahrzehnte konservativer, orthodoxer und fundamentalistischer geworden. Es gibt daher in Afghanistan starke konservative religiöse Kräfte und in der afghanischen Gesellschaft wenig Toleranz gegenüber religiösen Glaubensvorstellungen, die dem Islam zuwiderlaufen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kläger als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland als "verwestlicht" angesehen werden wird und dies ein zusätzliches Argument für einen Abfall vom Glauben liefert. [...]