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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 25.03.2020 - 2 BvR 113/20 - Asylmagazin 6-7/2020, S. 229 f. - asyl.net: M28402
https://www.asyl.net/rsdb/M28402
Leitsatz:

Anspruch auf Lagebericht-Kopien und jederzeitige Einbringung von Herkunftslandinformationen vor Gericht:

1. Zum in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Recht auf rechtliches Gehör gehört auch das in § 100 Abs. 1 VwGO geregelte Recht auf Akteneinsicht. Da auch Dokumente der sogenannten Asyldokumentation wie Lageberichte des Auswärtigen Amtes unter das Akteneinsichtsrecht fallen, ist Prozessbevollmächtigten die Anfertigung von Kopien der Lageberichte zu gestatten.

2. Der Klagebegründungsfrist nach § 74 Abs. 2 AsylG unterfallen lediglich Tatsachen und Beweismittel, die den individuellen Lebensbereich der asylsuchenden Person betreffen. Das Einbringen von Ausführungen und Beweisangeboten zur allgemeinen Situation im Herkunftsland ist im laufenden Verfahren jederzeit möglich. Die Zurückweisung eines entsprechenden Beweisantrags unter Berufung auf eine Verfristung nach § 74 Abs. 2 AsylG verstößt gegen das Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Auswärtiges Amt, Lagebericht, Beweisantrag, rechtliches Gehör, Berufungszulassungsantrag, Verfassungsbeschwerde, Präklusion, rechtliches Gehör, Begründungsfrist, Herkunftslandinformationen, verspätetes Vorbringen, Erkenntnismittel,
Normen: GG Art. 103 Abs. 1, AsylG § 74, VwGO § 82 Abs. 1 S. 3, VwGO § 100 Abs. 1
Auszüge:

[...]

b) Es spricht allerdings vieles dafür, dass das Verwaltungsgericht gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen hat.

aa) Dies betrifft zunächst die Weigerung, der Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers die Anfertigung von Kopien der ins Verfahren einbezogenen Lageberichte des Auswärtigen Amtes zu gestatten.

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte nicht nur, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, sondern auch, die Beteiligten über die entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu informieren. Eine Art. 103 Abs. 1 GG genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Sie müssen sich bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfGE 89, 28 <35> m.w.N.). Das Recht auf rechtliches Gehör sichert daher den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Zum Recht auf rechtliches Gehör gehört daher auch die Möglichkeit der Akteneinsicht (vgl. BVerfGK 7, 205 <212>; im Schrifttum: Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetzkommentar, 3. Auflage 2018, Art. 103 Abs. 1 Rn. 41; Radtke, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 103 Rn. 10 <1. Dezember 2019>; Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 103 Abs. 1 Rn. 87 <August 2019>). Die nähere Ausgestaltung bleibt den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen (BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 18, 399 <405>).

Im Verwaltungsprozess wirkt § 100 VwGO auf die Verwirklichung des Verfassungsgebots des Art. 103 Abs. 1 GG hin (vgl. zu § 147 StPO im Strafprozess BVerfGE 18, 399 <405>; Posser, in: Posser/Wolff, VwGO, Vorwort zu § 100 <1. Oktober 2019>; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage  2019, § 100 Rn. 2). § 100 Abs. 1 VwGO bestimmt, dass die Beteiligten die "Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten" einsehen (Satz 1) und sich auf ihre Kosten durch die Geschäftsstelle Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen können (Satz 2).

Nach überwiegender Auffassung fallen Dokumente der sogenannten Asyldokumentation, insbesondere Lageberichte, jedenfalls dann unter das Akteneinsichtsrecht gemäß § 100 Abs. 1 VwGO, wenn sie in das konkrete Verfahren einbezogen worden sind (vgl. Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 100 Rn. 7 m.w.N. <Juli 2019>; Störmer, in: Fehling/Kastner /Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Auflage 2016, § 100 VwGO Rn. 8). Diese Auffassung ist sachgerecht. Der Begriff der Akten im Sinne von § 100 VwGO ist vor dem Hintergrund des Grundrechts auf rechtliches Gehör weit auszulegen (vgl. dazu auch Störmer, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Auflage 2016, § 100 VwGO Rn. 8).

Dies zugrunde gelegt, spricht viel dafür, dass das Verwaltungsgericht der Prozessbevollmächtigten die Anfertigung von Kopien der Lageberichte, insbesondere des Lageberichts vom 29. Juli 2019, gemäß § 100 Abs. 1 Satz 2 VwGO hätte gestatten müssen. Der Beschwerdeführer hat jedoch weder dargelegt noch ist sonst ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht, wenn es die Anfertigung von Kopien der Lageberichte gestattet hätte, auf der Grundlage des dann von der Prozessbevollmächtigten getätigten Vortrags zumindest potentiell eine andere, für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätte. Der – aktuellste – Lagebericht vom 29. Juli 2019 vermittelt insbesondere keine Erkenntnisse, die über die vom Bundesamt und vom Verwaltungsgericht tatsächlich berücksichtigten materiellen Erkenntnisse hinausgehen. Deshalb hat sich das Verbot, Kopien anzufertigen, jedenfalls nicht auf das Ergebnis der Klage ausgewirkt.

bb) Das Verwaltungsgericht dürfte auch dadurch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen haben, dass es die im Schriftsatz vom 1. August 2019 angekündigten, in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge Nr. 3, 4, 6, 7 und 8 zurückgewiesen hat.

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen des einschlägigen Prozessrechts die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (vgl. BVerfGE 50, 32 <35>; 60, 247 <249>). Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes verstößt daher dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfGE 50, 32 <35>; 60, 247 <249>; 69, 141 <143 f.>). Die Zurückweisung der genannten Beweisanträge dürfte gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen haben.

Das Verwaltungsgericht hat die Beweisanträge mit der Begründung abgelehnt, dass "die Beweismittel nicht in der Frist des § 74 AsylG angekündigt wurden und eine Beweiserhebung das Verfahren verzögern würde." Dies findet hinsichtlich der Beweisanträge Nr. 3, 4, 6, 7 und 8 im Gesetz keine Stütze. § 74 Abs. 2 AsylG bestimmt:

"Der Kläger hat die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung anzugeben. § 87b Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung gilt entsprechend. Der Kläger ist über die Verpflichtung nach Satz 1 und die Folgen der Fristversäumung zu belehren. Das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel bleibt unberührt."

Nach der Gesetzesbegründung zu § 72 AsylVfG a.F., der Vorgängervorschrift zu § 74 AsylG, ist Sinn und Zweck der Präklusionsvorschrift, die Mitwirkungspflicht des Asylbegehrenden zu verstärken. Dort heißt es:

"Die Soll-Vorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 3 VwGO wird […] für den Bereich der Asylstreitigkeiten zu einer zwingenden Regelung ausgestaltet. Das ist sachgerecht, denn die Gerichte sind im Asylverfahren in besonderem Maße auf die Mitwirkung des Klägers angewiesen. Dieser beruft sich regelmäßig auf Umstände, die in seinem persönlichen Lebensbereich liegen und daher nur von ihm selbst vorgetragen werden können. Auch die Beweismittel, die diese Umstände belegen können (insbesondere Zeugen, Urkunden), kann vielfach nur der Kläger selbst benennen. Kommt der Kläger seiner hieraus folgenden Mitwirkungspflicht nicht oder nur unzulänglich nach, führt dies zu erheblichen Verfahrensverzögerungen; dem soll durch die Regelung […] abgeholfen werden. Unberührt bleibt der Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO. Deshalb werden die Gerichte beispielsweise Ermittlungen über die allgemeine politische Lage in den Herkunftsländern der Asylbewerber, soweit erforderlich, auch weiterhin von Amts wegen vornehmen müssen" (BTDrucks 12/2062, S. 40).

Die Begründungsfrist in § 74 Abs. 2 AsylG soll mithin sicherstellen, dass gerade solche Tatsachen und Beweismittel, die den individuellen Lebensbereich des Asylsuchenden betreffen, frühzeitig angegeben werden; mit Beweismittel sind dabei in erster Linie vorhandene Urkunden und Zeugen gemeint, die nur der Asylsuchende selbst bezeichnen kann. Ausführungen und Beweisangebote zur allgemeinen Situation im Herkunftsland bleiben jederzeit möglich (so auch Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 74 Rn. 70 f.), schon weil sie im Hinblick auf § 77 Abs. 1 AsylG jedenfalls zum Entscheidungszeitpunkt aktualisiert sein müssen.

Dies zugrunde gelegt, lagen die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 AsylG in Bezug auf die Beweisanträge Nr. 3, 4, 6, 7 und 8 nicht vor. Denn diese betrafen nicht in die persönliche Erlebnissphäre des Beschwerdeführers fallende Ereignisse und Vorkommnisse, sondern die allgemeine Situation im Herkunftsland Pakistan.

Auch bezüglich dieses Verstoßes des Verwaltungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG hat der Beschwerdeführer indes die erforderliche Ergebnisrelevanz nicht dargelegt. In Bezug auf die Beweisanträge Nr. 3, 4, 6 und 7 ergibt sich dies daraus, dass das Verwaltungsgericht den Vortrag des Beschwerdeführers, dass er in das Geschehen im Zusammenhang mit der Tötung zweier Christen im Anschluss an einen Blasphemieprozess in Faisalabad im Juli 2010 persönlich involviert gewesen sei, für insgesamt unglaubhaft gehalten hat. Dies zugrunde gelegt, hätten die Beweisanträge Nr. 3, 4, 6 und 7 vom Verwaltungsgericht ohne Weiteres als wahr unterstellt werden können; sie waren mithin unerheblich. In Bezug auf den Beweisantrag Nr. 8 ergibt sich dies daraus, dass das Verwaltungsgericht dem Vortrag des Beschwerdeführers, dass Christen in Pakistan diskriminiert würden, gerade nicht entgegengetreten ist, sondern durch die Inbezugnahme des Bundesamtsbescheides selbst angenommen hat, dass Christen in den Bereichen Wirtschaft, Bildungswesen und Arbeitsmarkt in Pakistan diskriminiert werden (S. 4 des Bundesamtsbescheids). Das Verwaltungsgericht ist sodann deswegen nicht zu einer Schutzzuerkennung gekommen, weil es davon ausgegangen ist, dass auch die Gesamtschau der von Christen in Pakistan zu erduldenden Umstände – überproportionale Anwendung der Blasphemiegesetze; Anschläge und gezielte Übergriffe durch islamistische Gruppen; Diskriminierungen – nicht zu der Annahme einer hinreichenden Verfolgungsdichte führen könne. cc) Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. [...]