VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 12.03.2019 - 2 A 138/17 HAL - asyl.net: M28358
https://www.asyl.net/rsdb/M28358
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen libyschen Staatsangehörigen gambischer Abstammung:

1. In Libyen besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt.

2. Personen mit dunkler Hautfarbe sind - ähnlich wie Angehörige der Minderheit der Tawergha - besonders von der willkürlichen Gewalt in diesem Konflikt betroffen.

3. Das Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks wirkt sich gefahrerhöhend aus.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libyen, Hautfarbe, subsidiärer Schutz, gefahrerhöhende Umstände, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung der aktuell abschiebungsrelevanten Lage in Libyen hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Voranzustellen ist, dass das Gericht davon ausgeht, dass die im Verwaltungsvorgang der Beklagten enthaltenen Lichtbilder tatsächlich den Kläger zeigen und dieser demnach ein dunkelhäutiger Mensch ist. Das Gericht geht danach - worauf auch die Darlegungen des Klägers hinweisen - davon aus, dass der Kläger sich in Libyen in einer vergleichbaren Situation befindet wie die Minderheit der Tawergha, eine ebenfalls dunkelhäutige Volksgruppe aus der Region um Tawergha. [...]

Das Gericht ist hinsichtlich des Klägers aufgrund seiner Hauptfarbe überzeugt, dass er sich in einer vergleichbaren Situation befindet wie die zum Volk der Tawergha gehörigen Bürger Libyens. Die sich daraus für ihn ergebende besonders schwierige Situation in Libyen stellt eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens und seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG dar.

Nach der Erkenntnislage geht das Gericht davon aus, dass in Libyen derzeit (noch) von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen ist (vgl. auch: VG Würzburg, Urteil vom 27. August 2018 - W 8 K 18.30790 - , Rn. 14 - 41, juris; VG Dresden, Urteil vom 22. September 2017 - 12 K 1598/16.A - Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] - juris; ebenso im Ergebnis VG Ansbach, Urteil vom 29. März 2018 - AN 10 K 16.32482 - juris; offengelassen VG Chemnitz, Urteil vom 31. Mai 2018 - 7 K 2166/16.A - juris; Urteil vom 24. Mai 2018 - 7 K 3986/16.A - juris; Urteil vom 15. März 2018 - 7 K 2975/16. A - juris, jeweils mit weiteren Nachweisen).

Nach dem Sturz Gaddafis und der Befreiung ganz Libyens am 23. Oktober 2011 ist in Libyen ein Machtvakuum entstanden [ist], das die Ausbreitung von Milizen und bewaffneten Gruppen ermöglichte, die brutal um Gebiete und Öl kämpften. Weite Teile des Landes standen und stehen unter Kontrolle bewaffneter Gruppierungen mit Milizcharakter. Nach dem Auswärtigen Amt (Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018) befindet sich Libyen Mitte 2018 im siebten Jahr nach dem Tod des Diktators Gaddafi weiterhin im politischen Umbruch. Landesweite Sicherheit bleibt die größte und wichtigste Herausforderung des seit Dezember 2015 bestehenden Präsidialrats. Große Teile des Landes und der Gesellschaft werden von Milizen kontrolliert, andere Teile sind praktisch unregiert. Bewaffnete Gruppen beanspruchen jeweils auf ihrem Gebiet die Ausübung einer Art staatlicher Kontrolle. Eine der größten Gefahren für die Bevölkerung ist es, als Unbeteiligte in die immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen zwischen Milizen zu geraten bzw. Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden. Menschenrechtsverletzungen in Libyen sind an der Tagesordnung. Die vulnerabelste Gruppe sind Migranten und Flüchtlinge.

Aber auch Libyer sind Menschenrechtsverletzungen durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, ohne sich dagegen wirksam schützen zu können. Ein einheitliches funktionierendes Rechtssystem steht nicht zur Verfügung. Besonders betroffen sind Minderheiten. Die Sicherheitslage in Libyen ist instabil. Dem Präsidialrat gegenüber loyalen Milizen aus der westlibyschen Stadt Misrata gelang es, den sogenannten IS im Dezember 2016 aus seiner Hochburg in der zentrallibyschen Küstenstadt Sirte zu vertreiben. Er ist weiterhin in Libyen aktiv und hat auch 2017 bis 2018 Anschläge verübt. In Ostlibyen geht General Haftar gegen islamistische und dschihadistische Gruppen mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vor. Auch Tripolis ist faktisch im Einflussbereich von vier Milizen. Eine davon ist die salafistische Rada-Miliz. Diese Miliz übt inzwischen die vollständige Kontrolle über den einzigen funktionstüchtigen Flughafen (Mitiga) von Tripolis und das dort gelegene größte Gefängnis Westlibyens aus.

Einer Vielzahl von Milizen werden Folter und standrechtliche Hinrichtungen vorgeworfen. Auch die im Osten vorherrschende LNA ist kein einheitliches Gebilde, vielmehr eine Klammer für einzelne Milizen, die auch eigene Interessen verfolgen und denen ihrerseits Menschenrechtsverletzungen sowie die Hinnahme ziviler Opfer nachgesagt werden. Alle Konfliktparteien verübten wahllose sowie gezielte Angriffe auf dicht besiedelte Gebiete, die zum Tod von Zivilpersonen und der rechtswidrigen Tötungen führten. Tausende Menschen wurden von bewaffneten Gruppen verschleppt, willkürlich festgenommen und zeitlich unbegrenzt inhaftiert. In den Gefängnissen waren Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung. Menschen wurden aufgrund ihrer Überzeugung, ihrer Herkunft, ihrer vermuteten politischen Zugehörigkeit und ihres mutmaßlichen Reichtums von bewaffneten Gruppen und Milizen verschleppt und rechtswidrig inhaftiert (Amnesty International, Report Libyen 2017/2018).

Die Lage im ganzen Land ist extrem unübersichtlich und unsicher. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In großen Teilen des Landes herrschen bewaffnete Milizen oder sonstige bewaffnete Kräfte. In Abwesenheit staatlicher Kontrolle über das gesamte Territorium setzen sich Dutzende rivalisierende Milizen und militärischen Streitkräfte mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Allianzen straffrei über internationales Recht hinweg. Rivalisierende Milizen und militärische Streitkräfte entführen Personen und lassen diese verschwinden, foltern, inhaftieren willkürlich und führen ungesetzliche Tötungen durch (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Libyen vom 20.10.2017). Im Ergebnis ist weiterhin aufgrund des Vorhandenseins verschiedener Regierungen sowie die fragile Situation ausnutzende terroristische Elemente, aufgrund deren die Lage nach wie vor unübersichtlich und unsicher ist, vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen.

Darüber hinaus ist das Gericht überzeugt, dass dem Kläger mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses innerstaatlichen Konflikts bei einer Rückkehr droht. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann in erster Linie auf gefahrerhöhende persönliche Umstände beruhen. Dies sind solche Umstände, die den Betreffenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen als andere.

Zwar gehört der Kläger nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht zur Minderheit der Tawergha. Er hat jedoch ebenfalls eine dunkle Hautfarbe und wird daher auch nach seinem eigenen Bekunden und nachvollziehbarer Weise von den arabischstämmigen Libyern dieser Volksgruppe zugeordnet. Auch für ihn liegen daher gefahrerhöhende Umstände vor, die dazu führen, dass auch das Vorliegen eines geringeren Niveaus an willkürlicher Gewalt zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus führt (vgl. VG Dresden, Urteil vom 22. September 2017 - 12 K 1598/16.A - Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] - juris Rn. 63 ff., 68 ff.). Denn aus der analog heranzuziehenden Situation der Tawergha in Libyen ergibt sich, dass der Kläger allein aufgrund seiner - ihm zugeschriebenen - Zugehörigkeit zu dieser Minderheit zum einen von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen ist als andere und zum anderen wegen des bestehenden bewaffneten innerstaatlichen Konflikts zusätzlich die Gefahr gezielter Gewaltakte ausgesetzt ist. Denn die Tawergha sind - ebenso wie der Kläger - schon aufgrund ihrer Hautfarbe nach außen erkennbar. Ihnen wird des Weiteren eine Unterstützung des früheren Gaddafi-Regimes zugeschrieben, so dass sie besonders Repressalien unterschiedlichster Art ausgesetzt sind wie Beleidigungen, Belästigungen, Angriffe, Entführungen, Misshandlungen bis hin zur Folter und illegalen Tötungen durch bewaffnete Milizen. Besonders häufig und anhaltend sind die willkürlichen Festnahmen (vgl. VG Dresden, a.a.O., Rn. 69 m.w.N.; VG Würzburg, Urteil vom 27. August 2018 - W 8 K 18.30790 -, Rn. 14 - 41, juris).

Das Auswärtige Amt schreibt in seinem Ad-hoc-Lagebericht (Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018): Angriffe auf politische Gegner sind weit verbreitet, insbesondere auf Politiker, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Juristen, religiöse Führer und (angebliche) ehemalige Anhänger Gaddafis. Die Kämpfe betrafen wiederholt die Zivilbevölkerung. In verschiedenen Städten kam es wiederholt zu Tötungen, standrechtlichen Hinrichtungen, Geiselnahmen, willkürlichen Festnahmen, Folter und Übergriffen auf zivile Einrichtungen und Häuser. Eine kleinere ethnische Minderheit, die ca. 42.000 Angehörige zählt, sind die Tawergha, dunkelhäutige Nachfahren ehemaliger Sklaven aus der gleichnamigen Stadt. Sie wurden 2011 im Zuge der Kämpfe gegen Gaddafi durch Milizen aus dem benachbarten Misrata aus ihrer Stadt vertrieben und sind seither in Lagern in Tripolis, Bengasi und anderen Städten des Landes untergebracht. Die Tawergha stellen einen beträchtlichen Teil der derzeit ca. 200.000 Binnenflüchtlinge in Libyen. Ihre Lebensbedingungen sind besorgniserregend. Ein im August 2016 geschlossenes Versöhnungsabkommen sieht die Rückkehr der Tawergha in ihre Heimatstadt vor. Bis Juli 2018 kehrte eine einzige Familie heim. Anfeindungen durch Teile des Misratis, zerstörte Infrastruktur und die Minengefahr stellen erhebliche Hindernisse dar.

In dem Bericht vom Juli über Binnenvertriebene, zu denen auch die Tawergha gehören, bemängelt die UN-Sonderberichterstatterin den in Libyen inexistenten Rechtsrahmen zum Schutz von Binnenvertriebenen sowie deren schlechte Versorgungs- und Sicherheitslage. Sie ruft die libysche Regierung dazu auf, die dramatische Situation der Binnenvertriebenen nicht länger kleinzureden. Zudem appelliert sie auch an bewaffnete Gruppen, die Kontrolle über Gebiete ausüben, die Bevölkerung besser zu schützen als bisher und sich im Umgang mit humanitären Akteuren kooperativer zu verhalten. Bis zum Jahresende 2017 hat es bezüglich der Rückkehr von Menschen nach Tawergha keine Fortschritte gegeben und die Vereinbarung war nicht umgesetzt (Amnesty International, Report Libyen 2017/2018).

Gefahrerhöhend ist für den Kläger weiter, dass er nach seinen Angaben über keinerlei soziales Netzwerk in Libyen verfügt, da seine restliche Familie in Gambia lebt. Liegen damit im Fall des Klägers gefahrerhöhende Umstände vor, genügt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch ein geringes Niveau willkürlicher Gewalt. Es ist daher unerheblich, dass in den meisten Regionen Libyens die Opferzahlen bei Anschlägen oder bewaffneten Angriffen noch weit von dem vom Bundesverwaltungsgericht in anderer Sache für unbedenklich gehaltenen Risiko zu 1:800 bzw. 1:1000 entfernt sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454 - juris Rn. 22  und 10 C 11.10 - juris Rn. 20; VG Würzburg, Urteil vom 27. August 2018 - W 8 K 18.30790 -, Rn. 14 - 41, juris; VG Ansbach, Urteil vom 29. März 2018 - AN 10 K 16.32482 - juris Rn. 32).

Denn aufgrund der besonderen Situation des Klägers als dunkelhäutiger Libyer ist eine erhöhte individuelle Bedrohung zu bejahen, wobei festzustellen ist, dass hinsichtlich des Klägers, der zwar in Traghan, Libyen geboren, aber nicht dort verwurzelt ist und also auch keiner bestimmten Region für die Rückkehr zuzuordnen ist, auf die landesweite Lage abzustellen und insoweit eine landesweite Gefahr für den Kläger festzustellen ist. Dies gilt zum einen schon wegen der persönlichen gefahrerhöhenden Merkmale wie Hautfarbe und fehlende Kernfamilie. Hinzu kommt die dem Volk der Tawergha - bzw. dunkelhäutigen Libyern - zugeschriebene Unterstützung des früheren Gaddafi-Regimes, auf die auch der Kläger mit dem in der mündlichen Verhandlung überreichten Schriftsatz hingewiesen hat. Letzteres wird durch die Erkenntnislage bestätigt (vgl. Accord, Anfragebeantwortung zu Libyen: Lage von Menschen, die im Verdacht stehen, Unterstützerinnen des Gaddafi-Regimes zu sein, 2014 bis heute vom 19. Januar 2017), wonach die Milizen tausende Soldaten und auch Anhänger, auch vermeintliche Anhänger des Gaddafi-Regimes festgenommen, ihre Häuser und Orte geplündert und niedergebrannt haben. Das Auswärtige Amt berichtete, dass Angriffe auf politische Gegner wie auch (angebliche) ehemalige Anhänger Gaddafis in Libyen heute noch weit verbreitet sind (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018).

Im Ergebnis ist unter Gesamtbetrachtung aller Umstände im vorliegenden Einzelfall bei einer wertenden Betrachtung auch unter Berücksichtigung der Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung und der medizinischen Versorgungslage, der Opferzahl sowie der individuellen gefahrerhöhenden Momente speziell beim Kläger von der ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen, so dass sich ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes ergibt (ebenso im Ergebnis VG Dresden, Urteil vom 22. September 2017 - 12 K 1598/16.A - Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] - juris; zum ganzen vergleiche auch VG Würzburg, Urteil vom 27. August 2018 - W 8 K 18.30790-, Rn. 14 - 41, juris). [...]