VG Würzburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 21.05.2019 - B1 K 17.31222 - asyl.net: M28356
https://www.asyl.net/rsdb/M28356
Leitsatz:

Asylanerkennung wegen drohender politischer Verfolgung in Kasachstan:

Asylanerkennung für einen kasachischen Staatsangehörigen, der vom Staatsschutz verfolgt wurde, nachdem er als Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft die Freilassung zu Unrecht festgenommener Demonstranten angeordnet hatte und der sich im Exil (zusammen mit prominenten Oppositionellen) für die mittlerweile verbotene Organisation "Demokratische Wahl Kasachstans" engagierte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kasachstan, politische Verfolgung, Asylanerkennung, Exilpolitik, Demokratische Wahl Kasachstans,
Normen: GG Art. 16a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ende April 2016 kam es (wie auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausführte) in Kasachstan zu zahlreichen Demonstrationen gegen eine geplante Landesreform, welche von den Gegnern als Ausverkauf kasachischen Bodens an ausländische Investoren aufgefasst wurde. Der Präsident Nasarbajew forderte, Provokateure, die bewusst Gerüchte über den Verkauf von Agrarland streuen, streng zu bestrafen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Kasachstan vom 20. Juli 2018, Seite 7). Eine inländische Fluchtalternative ist unter diesen Umständen nicht erkennbar, zumal das Gesetz keine unabhängige Justiz vorsieht, da der Staatspräsident die Justiz dominiert. Die Rekrutierung von Richtern ist von Korruption geplagt und bedingt oftmals die Bestechung hochrangiger Beamter. Die Staatsanwälte haben eine quasi-richterliche Funktion und sind befugt, Gerichtsentscheidungen auszusetzen. Obgleich es den Gerichten obliegt, Haftbefehle zu bewilligen oder zu verweigern, werden Haftanträge der Staatsanwaltschaft in der überwiegenden Mehrheit der Fälle ausgestellt. Die Staatsanwälte haben die Macht, Untersuchungen und Festnahmen zu autorisieren (BFA, Länderinformationsblatt a.a.O. Seite 10 f.). Die inländische Fluchtalternative wurde vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid mit einem Satz festgestellt, ohne dies weiter zu begründen oder zu belegen.

Zwar konnte der Kläger sein Heimatland mit einem Visum verlassen. Daraus kann aber nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass der Kläger nicht vorverfolgt ausgereist ist. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeführt, dass er einen einflussreichen Freund hat, der im Komitee für nationale Sicherheit (KNB) tätig ist. Dieser hat für ihn ein Schreiben ausgestellt, dass er bei einer privaten Firma arbeitet, so dass es für die ausstellende Behörde keinen Anlass gab, zu prüfen, ob der Kläger Staatsanwalt ist und das Land überhaupt verlassen darf. Zudem konnte unter Einflussnahme dieser Person innerhalb von drei Tagen ein Reisepass ausgestellt werden. Angesichts der in Kasachstan weit verbreiteten Korruption (BFA, Länderinformationsblatt a.a.O. Seite 14) erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass diese Papiere ausgereicht haben, um dem Kläger eine Ausreise zu ermöglichen.

Der Kläger kann seine politische Verfolgung zudem auf Aktivitäten nach seiner Flucht stützen. So ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zusammen mit Herrn ..., der in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehört wurde, mit dazu beigetragen hat, dass eine Entschließung durch das Europäische Parlament im März 2019 verabschiedet wurde (vgl. Gerichtsakte Seite 56). Der Kläger trug dort unter Nennung seines Namens seine Verfolgungsgeschichte vor. Dieser Tatsachenbericht wurde im Rahmen der Resolution vermerkt. Es existieren Audioprotokolle, die die Aussagen des Klägers wiedergeben. Der Kläger hat auf YouTube und auf einem Internetforum ein 20-minütiges Video eingestellt, das außerhalb Kasachstans (zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung)
bereits 137.950 Mal angeschaut wurde. Zusammen mit Herrn Atabayev und Herrn Ablyasow engagiert er sich für die Bewegung "Demokratische Wahl Kasachstan". Diese Bewegung wurde im März 2018 verboten (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/kasachstan-node/-/206674 - Abruf am 17. Mai 2019). In dem Video ruft er dazu auf, dass das Volk sich zu einer Faust versammeln soll. Er kritisiert den Präsidenten Nasarbajew und appelliert an die Kraftstrukturen, also an Mitglieder des Verteidigungsministeriums, des Komitees für nationale Sicherheit, der Staatsanwaltschaft und der Polizei mit dem Volk auf die Straße zu gehen, da nur so etwas gegen die Alleinherrschaft des Staatspräsidenten, der nur "Angst vor dem Volk, nicht aber vor Allah" habe, bewirkt werden kann. Dass der Staatspräsident überraschend zurückgetreten ist, wird die Einstellung der kasachischen Regierung gegenüber dem regimekritischen Kläger nicht ändern: Hierzu folgender Ausschnitt aus der Zeit (https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/kasachstan-praesident-nursultan-nasarbajew-ruecktritt - Abruf am 17. Mai 2019): "Nasarbajews Nachfolger soll der Vorsitzende des Senats, Jomart Tokajew, werden. Tokajew solle das Amt bis zum Ablauf des Mandats im März kommenden Jahres versehen, sagte Nasarbajew. Der 65-jährige neue Präsident gilt als loyaler Gefolgsmann von Nasarbajew. Von 1999 bis 2002 war er Kasachstans Ministerpräsident. Auch nach seinem Rücktritt wird Nasarbajew einen Teil seiner bisherigen Machtfülle behalten. Das liegt teilweise an seiner in der Verfassung festgeschriebenen Position als "Führer der Nation". Ein Titel der ihm im Jahr 2010 verliehen worden war, offiziell gegen eigenen Wunsch. Seit dem vergangenen Jahr ist er außerdem Vorsitzender des staatlichen Sicherheitsrates auf Lebenszeit."

Aufgrund der umfangreichen exilpolitischen Tätigkeit des Klägers ist davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Kasachstan einer landesweiten Verfolgung ausgesetzt sein würde. Dies ergibt sich daraus, dass es in Kasachstan keine Opposition gibt. Im Länderinformationsblatt des BFA wird am Beispiel der ebenfalls von Ablyasow finanzierten Partei "Algha!" (Vorwärts) ausgeführt, dass diese Partei seit 2012 verboten ist. Der Vorsitzende der Partei Wladimir Koslow wurde Anfang Oktober 2012 in einem höchst umstrittenen Urteil wegen Anheizens sozialer Unruhen zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt (BFA, Länderinformationsblatt, a.a.O Seite 20 f.). Der Kläger hat auch glaubhaft ausgeführt, dass Freunde aus Kasachstan berichtet haben, dass gegen ihn bereits Strafverfahren eröffnet wurden. [...]