VG Stade

Merkliste
Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 06.03.2020 - 3 A 78/20 - asyl.net: M28351
https://www.asyl.net/rsdb/M28351
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für jungen Mann aus Afghanistan nach Konversion zum Christentum:

Personen, die vom Islam zum Christentun konvertieren, droht in Afghanistan landesweit Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Konvertiten, religiöse Verfolgung, Christen, Apostasie,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Nach der vorliegenden Auskunftslage ist davon auszugehen, dass Muslime, die sich vom Islam abgewandt haben (Apostaten), in Afghanistan einer Verfolgung sowohl durch staatliche als auch durch nichtstaatliche Organe unterliegen. Sie sind in Afghanistan Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt, wenn ihre religiöse Überzeugung bekannt wird; im Einzelfall kann auch bereits der entsprechende Verdacht genügen. Zur Lage der Christen und Konvertiten in Afghanistan hat das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 22. Januar 2020 (- 13 A 11356/19 - juris) wie folgt ausgeführt:

"Die Zahl afghanischer Christen kann nicht verlässlich angegeben werden. Nichtmuslimische Gruppierungen, zu denen auch Sikhs, Baha'i und Hindus gehören, machen jedenfalls weniger als 1 % der afghanischen Bevölkerung aus. Öffentlich zugängliche christliche Kirchen gibt es nicht. Lediglich auf dem Gelände der italienischen Botschaft befindet sich eine Kapelle, die ausländischen Christen zur Verfügung steht (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, vom 13. November 2019, S. 282; Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 2. September 2019, S. 12).

Konvertiten zum Christentum droht ebenso wie Apostaten im Allgemeinen die Gefahr der Strafverfolgung durch den afghanischen Staat. Apostasie ist im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt, gehört nach herrschender Rechtsauffassung aber zu den nicht ausdrücklich definierten "ungeheuerlichen Straftaten", die nach der hanafitischen Lehre mit dem Tod oder mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden. Zudem müssen Konvertiten - auch schon bevor eine staatliche Verfolgung einsetzt - mit sozialer Ächtung und mit Gewalt bis hin zur Lynchjustiz durch Familienangehörige, andere Mitglieder der örtlichen Gemeinschaft sowie durch regierungsfeindliche Kräfte, insbesondere die Taliban, rechnen. Personen, die zum Christentum konvertiert sind, sind deshalb gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen und sich so zu verhalten, als wären sie (weiterhin) Muslime. Dies setzt grundsätzlich die Teilnahme am religiös-kulturellen Leben, etwa den Besuch der Moschee und das Fasten während des Ramadan, voraus. Mit welcher Intensität die Religionsausübung erwartet wird, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Während der nicht regelmäßige Moscheebesuch, insbesondere, wenn er z.B. beruflich begründet werden kann, in den Großstädten nicht notwendig mit einem Verlust der Glaubwürdigkeit verbunden ist, ist der Gefährdungsgrad nicht regelmäßig praktizierender Muslime in ländlichen Gegenden erheblich höher. Rückkehrer aus dem westlichen Ausland können in besonderem Maße sozialem Druck ausgesetzt sein, nachzuweisen, dass sie an religiösen Riten überzeugt teilnehmen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, vom 13. November 2019, S. 281 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 12. September 2019, S. 14; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, vom 12. September 2018, S. 23; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, vom 30. August 2018, S. 72 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung: Lage von zum Christentum konvertierten Personen insbesondere in Kabul und Mazar-e-Sharif, vom 7. August 2018; Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan, vom 2. September 2019, S. 11; Stahlmann, Gutachten für das VG Wiesbaden, vom 28. März 2018, S. 312 ff.; EASO, Afghanistan: Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 17 f., 24 ff.)."

Diesen Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 02.09.2019 (Stand Juli 2019) und vom 31.05.2018 (Stand Mai 2018). Christen berichteten von einer feindseligen Haltung gegenüber christlichen Konvertiten und der vermeintlichen christlichen Proselytenmacherei (USDOS, Jahresbericht zur Religionsfreiheit vom 21.06.2019). Zu einer Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die speziell Christen diskriminiert, kommt es in Afghanistan in der Regel nur deshalb nicht, weil sich Christen nicht offen zu ihrem Glauben bekennen. In städtischen Gebieten sind Repressionen gegen Konvertiten aufgrund der größeren Anonymität weniger zu befürchten als in Dorfgemeinschaften (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 (Stand September 2016)). Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber konvertierten Christen ist ablehnend. Beobachtern zufolge hegen muslimische Ortsansässige den Verdacht, Entwicklungsprojekte würden das Christentum verbreiten und Proselytismus 'betreiben (USDOS, Jahresbericht zur Religionsfreiheit vom 21.06.2019). Quellen zufolge müssen Christen ihren Glauben unbedingt geheim halten. Es gebe kein Mitgefühl für Muslime, die ihren Glauben verraten hätten, und für Personen, die vom Glauben abgefallen seien (Apostaten), bestehe die Gefahr, von ihrer Familie verstoßen zu werden. Auch andere Personen in der Gemeinschaft könnten in gewissen Fällen die Sache in die eigene Hand nehmen und eine solche Person töten, ohne dass ein solcher Fall vor Gericht käme (ACCORD vom 07.08.2018). Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 02.09.2019 (Stand Juli 2019) und vom 31.05.2018 (Stand Mai 2018). Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 02.09.2019 (Stand Juli 2019)).

Der Kläger kann nicht gemäß § 3e AsylG auf eine interne Fluchtalternative verwiesen werden, da ihm in ganz Afghanistan die oben geschilderte Verfolgung drohen würde. [...]