VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.03.2020 - 12 S 299/19 - asyl.net: M28340
https://www.asyl.net/rsdb/M28340
Leitsatz:

Kein grundsätzlicher Anspruch auf Rücknahme einer unverhältnismäßigen Ausweisung:

"Allein die Tatsache, dass eine ohne gerichtliche Überprüfung bestandskräftig gewordene Ausweisung auf einem Verstoß gegen Art. 8 EMRK beruht, weil sie unverhältnismäßig gewesen ist, begründet keine Reduzierung des in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG normierten Rücknahmeermessens auf Null."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, Verhältnismäßigkeit, Rücknahme, Rechtswegerschöpfung, Ermessensreduzierung auf Null, Recht auf Wiederkehr, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 5, EMRK Art. 8, LVwVfG § 48 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

2) Der Kläger macht geltend, die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils sei ernstlich zweifelhaft, da sich das Verwaltungsgericht nicht mit der Frage auseinandergesetzt habe, was aus dem Umstand folge, dass die Folgen der rechtswidrigen Ausweisung trotz Befristung lebenslang wirkten und der Eingriff in das Familien- und Privatleben des Klägers nicht im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen (gewesen) sei, und ob nicht eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen sei, vergleichbar den Fällen, in denen der Gerichtshof der Europäischen Union solches wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht angenommen habe. Ernstlich zweifelhaft sei die Entscheidung insbesondere auch, weil sie den rechtswidrigen und damit unzulässigen Eingriff in Art. 8 EMRK nur im Zusammenhang mit der Ausweisung selbst thematisiere, nicht aber mit den fortbestehenden Folgen. Sie verschließe sich der Erkenntnis, dass die fortwährenden Folgen des rechtswidrigen Eingriffs in den Schutz des Familien- und Privatlebens ihrerseits weiterhin rechtswidrig seien und zur - möglichst schnellen - Aufhebung verpflichteten. Andernfalls würde der bestehende, rechtswidrige Zustand sehenden Auges perpetuiert. Die vom Verwaltungsgericht für seine Auffassung in Bezug genommenen Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 04.11.2009 (11 S 2472/08) und 28.06.2007 (13 S 1045/07) sowie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.10.2009 (1 C 26.08), das im Übrigen einen Fall betroffen habe, in dem die Rechtmäßigkeit der Ausweisung zuvor gerichtlich festgestellt worden sei, würden übersehen, dass bei einem Verstoß der Ausweisung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention die Realisierung der Rückkehr in das Bundesgebiet aus Art. 8 Abs. 1 EMRK heraus geboten sei. Jede andere Sichtweise führe dazu, dass das rechtswidrige Ereignis trotz Befristung bis heute fortdauere und jeden Tag aufs Neue die Rechte des Klägers auf Familien- und Privatleben verletzt würden. Nur in den Fällen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschrechte selbst eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt habe, einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung einzuräumen, sei ein menschenrechtswidriges Defizit des nationalen Rechts.

3) Ausgehend hiervon besteht kein Anlass, die Berufung wegen ernstlicher Zweifel zuzulassen.

a) Das Verwaltungsgericht hat seinem Urteil zutreffend zugrunde gelegt, dass das in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen belegt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bildet. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (BVerwG, Urteile vom 20.03.2008 - 1 C 33.07 - juris Rn. 12 und vom 17.01.2007 - 6 C 32.06 - juris Rn. 13). Dem Bundesverwaltungsgericht zufolge gibt es keinen Grund für die Annahme, das Ermessen bei der Entscheidung über die Rücknahme einer Ausweisung erweise sich durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes als positiv intendiert (BVerwG, Urteile vom 20.03.2008 - 1 C 33.07 - juris Rn. 12 und vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - juris Rn. 32).

Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 20.11.2018 - 1 C 23.17 - juris Rn. 26, vom 10.10. 2018 - 1 C 26.17 - juris Rn. 31 und vom 20.03.2008 - 1 C 33.07 - juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht ist - auch unter Berücksichtigung der verschiedenen Fallgruppen eines Rücknahmeanspruchs (vgl. etwa Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl., § 48 Rn. 79 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04.11.2009 - 11 S 2472/08 - juris Rn. 46) - aufgrund einer umfassenden Prüfung im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis gelangt, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisung nicht schlechthin unerträglich ist. Diesbezüglich sind keine Fehler ersichtlich.

Allein die Tatsache, dass eine ohne gerichtliche Überprüfung bestandskräftig gewordene Ausweisung auf einem Verstoß gegen Art. 8 EMRK beruht, weil sie unverhältnismäßig gewesen ist, begründet keine Reduzierung des in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG normierten Rücknahmeermessens auf Null.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist kein Gesetz, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag, der als solcher nicht unmittelbar in die staatliche Rechtsordnung eingreifen kann. Auch nach Erlass des Zustimmungsgesetzes handelt es sich weiterhin der Rechtsnatur nach um einen völkerrechtlichen Vertrag, dessen innerstaatliche Geltung lediglich durch den Vollzugsbefehl bewirkt wird. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besitzen ihrerseits ebenfalls keine Gesetzesqualität, vielmehr spricht Art. 46 Abs. 1 EMRK nur eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus (vgl. näher BVerfG, Urteil vom 04.05. 2011 - 2 BvR 2333/08 - juris Rn. 164 aE mwN; vgl. auch Meyer-Ladewig/Brunozzi in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl., Art. 46 Rn. 13 ff.). Mit Blick auf die spezielle Regelung in Art. 46 Abs. 1 EMRK ist es daher konsequent, bei Ausweisungen, bei denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK festgestellt hat, einen Rücknahmeanspruch zu bejahen (VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 04.11.2009 - 11 S 2472/08 - juris Rn. 50; VG Freiburg, Urteil vom 01.10.2007 - 1 K 893/06 - InfAuslR 2008, 252), im Übrigen aber außerhalb dieser besonderen Konstellation aus einem Verstoß gegen Art. 8 EMRK keinen Rücknahmeanspruch abzuleiten.

Die Europäische Menschenrechtskonvention hat aufgrund der Zustimmung des Bundesgesetzgebers mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich den Rang eines Bundesgesetzes; diese Rangzuweisung führt dazu, dass die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rah-men methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden ist (vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 27.01.2015 - 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 - juris Rn. 149 und vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - juris Rn. 30 ff.). Die Konvention steht nach der Normenhierarchie folglich nicht über dem Bundesrecht. Im Rahmen der Entscheidung über die Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts kommt einem Verstoß gegen Art. 8 EMRK daher keine weitergehende Wirkung zu als einer Verletzung sonstigen materiellen nationalen Rechts oder gar einem Grundrechtsverstoß (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2007 - 13 S 1045/07 - juris Rn. 30; siehe auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2008 - 1 C 33.07 - juris 12 ff.; das BVerwG hat mit dieser Entscheidung das zuvor genannte Urteil des Verwaltungsgerichtshofs bestätigt; vgl. ferner BVerwG, Beschluss vom 28.01.2008 - 1 B 57.07 - juris Rn. 3, nach dem ein Anspruch aus Art. 8 EMRK auf Rücknahme einer rechts-widrigen bestandskräftigen Ausweisungsverfügung zu verneinen ist).

Demzufolge ist es geklärt, dass auch bei einer unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK erfolgten Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation ohne das Hinzutreten weiterer Umstände des Einzelfalls nicht angenommen werden kann, das Rücknahmeermessen sei auf Null reduziert. Das Verwaltungsgericht hat bei der Prüfung, ob die Aufrechterhaltung der Ausweisung schlechthin unerträglich ist, die aktuellen Lebensumstände des Ausländers eingestellt, soweit noch ein Ursachenzusammenhang mit der Ausweisung besteht (vgl. zu diesem Erfordernis VGH Baden-Württemberg, 04.11.2009 - 11 S 2472/08 - juris Rn. 52). Das Gericht ist von einer sozialen Wiedereingliederung des Klägers in der Türkei ausgegangen; es hat auch keine sonstigen Umstände fest-gestellt, weshalb im Falle des Klägers, der jahrelang keinerlei Bemühungen entfaltet hat, um wieder nach Deutschland einreisen zu können, die Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Ausweisung schlechthin unerträglich wäre. Die entsprechenden Feststellungen und Würdigungen des Verwaltungsgerichts sind nicht mit (Verfahrens-)Rügen in Frage gestellt worden.

b) Soweit der Kläger der Auffassung ist, bei einem Ausländer der zweiten Generation müsse bei einem nicht gerechtfertigten Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK das Rücknahmeermessen auf Null reduziert sein, vergleichbar den Fällen, in denen der Gerichtshof der Europäischen Union solches wegen Verstoßes gegen Unionsrecht angenommen hat, lässt dies die oben dargestellte Rechtslage zur Normenhierarchie außer Acht. Im Übrigen ist die Europäische Union nicht der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten (vgl. das dies ablehnende Gutachten des EuGH vom 18.12.2014, EuGRZ 2015, 30 ff.). Art. 8 EMRK als solcher ist daher nicht unionsrechtlich determiniert. [...]

Auch bei einer unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK ergangenen und daher materiell rechtswidrigen Ausweisung sind mit Eintritt der Bestandskraft die angeordneten Rechtsfolgen entsprechend dem Inhalt der Regelung bindend. Dem Gedanken, dass eine rechtswidrige Ausweisung perpetuierend Art. 8 EMRK verletze, stehen das Institut der Bestandskraft und dessen Wirkungen entgegen. [...]