VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.03.2020 - A 10 S 1272/17 - asyl.net: M28339
https://www.asyl.net/rsdb/M28339
Leitsatz:

Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Änderung der Sachlage:

1. Eine Flüchtlingsanerkennung aus dem Jahr 2000 wegen der Gefahr der politischen Verfolgung ist nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein zu widerrufen, da staatliche Verfolgung nun nicht mehr droht.

2. Einem sunnitischen Kurden aus der Provinz Diyala droht auch keine Gefahr aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, sofern keine gefahrerhöhenden Umstände vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Sunniten, Schiiten, Diyala, Nordirak, Autonome Region Kurdistan, interne Fluchtalternative, Widerruf, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Flüchtlingsanerkennung, subsidiärer Schutz, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 73,
Auszüge:

[...]

Die der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG mit Bescheid des Bundesamts vom 05.04.2000 zugrundeliegenden Annahmen, dem damals minderjährigen Kläger drohe politische Verfolgung, weil sein Vater den damaligen Präsidenten Saddam Hussein beleidigt habe und die Familie daraufhin illegal den Irak verlassen und in Deutschland Asyl beantragt habe, sind nach dem Sturz Saddam Hussein im Jahr 2003 und der anschließenden Gründung eines demokratischen Staatswesens im Irak endgültig nicht mehr begründet. Hieraus folgt, dass mit der neuen irakischen Regierung ein staatlicher Schutzakteur im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG bzw. der 2011/95/EU vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um derartige (frühere) staatliche Verfolgungen zu verhindern. Hierbei kommt es nicht darauf an, inwieweit die heutige irakische Polizei und Justiz imstande ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten und eine wirkungsvolle Strafverfolgung zu betreiben, sondern darauf, ob ein Akteur aus-reichend Schutz bezogen auf die jeweilige der Anerkennung zugrundeliegenden Verfolgung bietet (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2011 a.a.O.). [...]

b) Gemessen hieran kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung nicht in Betracht.

Von einem staatlichen Programm zur Verfolgung von Kurden sunnitischer Glaubenszugehörigkeit kann keine Rede sein.

Auch hinsichtlich der von der schiitischen Bevölkerung bzw. von schiitischen Milizen oder vom sog. Islamischen Staat - IS - für sunnitische Kurden ausgehenden Gefahren kann weder für den Irak insgesamt noch für die Herkunftsregion des Klägers, die Provinz Diyala bzw. die Gegend um die Stadt Khanaqin eine ausreichende Verfolgungsdichte in dem genannten Sinne festgestellt werden.

Für den Gesamtirak scheidet eine Verfolgung schon insofern von vornherein aus, als in Gestalt der (in der irakischen Verfassung konstituierten, weitgehend autonom regierten) irakischen Region Kurdistan ein nicht unwesentlicher Teil des irakischen Staatsgebiets unter der Kontrolle von Kurden sunnitischer Glaubenszugehörigkeit steht.

In der Herkunftsregion des Klägers, der Stadt Khanaqin bzw. dem Distrikt Khanaqin in der Provinz Diyala, sind die Verhältnisse weniger klar; die Gegend gehört zu den sogenannten (zwischen der Zentralregierung und der Autonomen Provinz Kurdistan) umstrittenen Gebieten im Irak. In der Stadt Khanaqin und dem umliegenden Gebiet wird das Gewaltmonopol trotz einer nach wie vor mehrheitlich kurdischen Bevölkerung (vgl. de.wikipedia.org/wiki/Chan-aqin) im Wesentlichen von irakischen Sicherheitskräften in einer Koalition mit arabisch-schiitischen Milizen insbesondere der Badr Organisation ausgeübt (vgl. UK Upper Tribunal SMO, KSP & IM (Article 15(c); identity documents, Iraq CG [2019] UKUT 00400 (IAC)), S. 35). Mit den gleichwohl in der Region präsenten kurdischen Peschmerga-Einheiten scheint man sich mehr oder weniger dahingehend arrangiert zu haben, dass keine Kampfhandlungen zwischen diesen Gruppen erfolgen und den Peschmerga die Kontrolle einzelner Check-points (und der damit einhergehenden Einnahmequellen) sowie einzelner Städte, insbesondere der Stadt Khanaqin, deren Bevölkerung zu 85 % aus Kurden besteht, überlassen worden ist (vgl. Zmkan Ali Saleem, Mac Skelton, Christine M. van den Toorn, Security and Governance in the Disputed Territories Under a Fractured GOI: The Case of Northern Diyala, 14.10.2018, abrufbar unter blogs.lse.ac.uk/mec/2018/11/14/security-and-governance-in-the-disputed-territories-under-a-fractured-goi-the-case-of-northern-diyala/; Mac Skelton, Zmkan Ali Sallem, Iraq's disputed internal boundaries after ISIS, Februar 2019, S. 11 ff., abrufbar unter eprints.lse.ac.uk/100100/3/DIBsReport.pdf; Landinfo, Danish Immigration Service, Northern Iraq, November 2018, S. 18). Gleichwohl bleibt die Lage zwischen kurdischem und staatlich-irakischem Militär bzw. schiitischen Milizen angespannt. So wurde von kurdischer Seite (insbesondere von kurdischstämmigen Abgeordneten im irakischen Parlament, aber auch vom kurdischstämmigen Bürgermeister der Stadt Khanaqin) im Mai 2019 der Vorwurf erhoben, Mitglieder der PMF (= Popular Mobilisation Forces, also der auch unter dem Namen Al-Haschd asch-Schaʿbī bekannten Volksmobilmachungskräfte, einer Dachorganisation aus 40 fast ausschließlich schiitischen Milizen, zu denen auch die Badr-Miliz gehört) versuchten die Provinz Diyala gezielt zu "arabisieren", indem Häuser von Kurden durchsucht, Felder kurdischer Bauern verbrannt sowie Bomben gelegt würden (vgl. ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, Stand: Dezember 2019; vgl. auch www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/25052019). Auch beklagt vor allem die kurdische Seite eine fehlende Koordination der militärischen Aktivitäten mit der Folge, dass in einzelnen zwischen beiden Akteuren besonders umstrittenen Gebieten jedenfalls nachts kleinräumig in dörflichen Gebieten ein Sicherheitsvakuums besteht, welches wiederum der IS für Terroraktionen ausnutzt (vgl. UK Upper Tribunal a.a.O. S. 73; BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation- Gesamtaktualisierung am 20.11.2018; Update: 09.04.2019, S. 26 f.; Pressebericht vom 12.02.2020 www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/11022020, wonach zwischen der Stadt Khanaqin und dem Ort Jalawla eine "acht Kilometer <lange> Sicherheitslücke" bestehe). Speziell zur Provinz Diyala heißt es im "EASO Informationsbereich über das Herkunftsland Irak - Sicherheitslage" vom März 2019 (S. 35), das Institut für Kriegsforschung (Institute for the Study of War - IWS -) berichte, der IS übe in zahlreichen Bezirken "hohen psychischen Druck auf die Bevölkerung" aus, jedoch keine "Kontrolle" im Sinne der Begriffsbestimmung. In diesen Bezirken könne der IS zwar kein Territorium halten, jedoch weise eine Reihe von Indikatoren darauf hin, dass er den irakischen Streitkräften die Kontrolle streitig mache. Zu diesen Indikatoren zählten beispielsweise die Aufgabe von Dörfern, die Zerstörung von landwirtschaftlichen Flächen und Infrastrukturen, wiederholte Überfälle durch den IS und Anschläge auf die örtliche soziale Hierarchie. Nach Auffassung des ISW könne die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten nicht auf einen "angemessenen Schutz" durch die Sicherheitskräfte zählen; insbesondere umkämpft sei die Region Khanaqin. Im Juli 2018 habe der ehemalige Innenminister Baqir Dschabr az-Zubaidi Medienberichten zufolge erklärt, dass der IS "Kontrolle" über mehr als 75 Dörfer in Kirkuk, Salah al-Din und Diyala habe. Das BFA Österreich (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018; Update: 09.04.2019, S. 26 f.) verfügt (wohl) zum Stand Oktober 2018 über Berichte, dass Menschen aus Dörfern in ländlichen Gebieten wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas vor dem IS fliehen würden, weil Ortschaften angegriffen und Steuern vom IS erhoben würden. Es gebe Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte seien und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigten. Die Stadt Khanaqin, die vom IS auch zu dessen Herrschaft über große Teile des irakischen Staatsgebiets nie besetzt worden ist (UK Upper Tribunal a. a. O. S. 35; Mac Skelton, Zmkan Ali Sallem, Iraq's disputed internal boundaries after ISIS, Februar 2019, S. 12, abrufbar unter eprints.lse.ac.uk/100100/3/DIBsReport.pdf) ist hiervon allerdings nicht betroffen.

Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln besteht danach kein Anlass zu der Annahme, dass Kurden generell in der Herkunftsregion des Klägers (und nicht nur kleinräumig in einzelnen ländlichen vom IS besonders gefährdeten Gebieten) von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte, schiitischer Milizen oder des IS nicht nur vereinzelten Übergriffen ausgesetzt sind, sondern eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung im Sinne von § 3 AsylG erforderliche hinreichende Verfolgungsdichte vorliegt. [...]

2. Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation im Irak in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen (für die schlechte humanitäre Situation im Irak verantwortlichen) Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.

Die in weiten Teilen des Iraks bestehende allgemein schwierige Versorgungslage (vor allem bezüglich Nahrung, Wasser-, Strom- und Sanitärversorgung, medizinische Versorgung, Wohnraum, Arbeitsmarkt und Sozialwesen) hat vielfältige Ursachen, wird aber nicht zielgerichtet vom irakischen Staat, von herrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Dritten herbeigeführt. Sie ist insbesondere bedingt durch die jahrzehntelange internationale Isolation des Landes, durch Krieg und Terror, die volatile Sicherheitslage, Korruption und Armut sowie teilweise auch durch die schwierigen Umwelt- und klimatischen Bedingungen mit beispielsweise Temperaturen von über 50 Grad in den Sommermonaten (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.08.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 156 unter Verweis insbesondere auf den Lagebericht des Auswärtigen Amts, vgl. dort S. 24 ff.).

Auch soweit für den Distrikt Khanaqin teilweise davon berichtet wurde, dass schiitische Milizen die Felder von Kurden in Brand gesetzt haben und zudem öffentliche Infrastruktur und landwirtschaftliche Einrichtungen auch zum Spektrum des in der genannten Region im Verhältnis zu anderen Landesteilen noch überproportional aktiven IS gehören, sind diese auf einzelne Akteure zurückzuführenden Ursachen für die schlechte wirtschaftliche Lage ersichtlich nicht von ausreichendem Gewicht, um angesichts der multifaktoriellen Kausalitäten von einer Zurechnung der insgesamt schlechten Lage zu einem der genannten Akteure auszugehen. [...]

Jedenfalls genügt das in der Region Diyala bzw. dem Distrikt Khanaqin vorherrschende Ausmaß an Gewalt nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen bei weitem nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens (im Sinne der vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Maßstäbe) für den Kläger anzunehmen, der allenfalls in geringem Umfang gefahrerhöhende persönliche Umstände aufweist. Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Region Diyala sowie (soweit ermittelbar) im Distrikt Khanaqin weit unterhalb der vom Bundesverwaltungsgericht für maßgeblich erachteten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %. [...]